Wie zerbrechlich wir sind

Ich habe fast so lang keinen echten Blog hier geschrieben, wie ich keine großen Publikumsveranstaltungen mehr hatte. Zwischendurch gab es Reden und Bewerbungen und allerlei politisches Zeugs, aber keine Berichte über Eindrücke, die ich gesammelt habe und die nicht in Interviews oder Gastbeiträge passen, weil sie vielleicht zu persönlich sind, zu sehr Mischform, zu tastend. Wie sehr der Ausfall des Blogs und die Corona-Zeit zusammen fallen, wurde mir erst in den letzten Wochen klar, als ich zu einer Art Vor-Wahlkampfreise aufbrach, die ich Küstentour nannte.

Als Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein versuche ich, so viel es geht in meinem Heimatbundesland zu sein. Und da ich ab August kreuz und quer durch die Republik toure, ist der Juli ein gutes, zusätzliches Zeitfenster dafür. Gestartet bin ich in der ersten Woche entlang der Urlaubsorte an der Westküste, nächste Woche folgt die Ostseeküste.

Es war eine denkwürdige erste Woche. Zum einen war es ein Zurückkommen in die Region, die ich während meiner Ministerzeit mit am intensivsten betreut habe: Küstenschutz, Meeresschutz, Nationalpark, Fischerei, Windkraftausbau, Stromtrassenbau – all das summiert sich hier. Dann ist es natürlich eine erhabene Landschaft. Die amphibischen Watten – nicht Land, nicht Meer, die Größe der Nordsee, die Dünen der Inseln…

Die Menschen dann, die zugewandt waren, mich teilweise von früher kannten und zumindest so taten, als ob sie sich freuten mich wiederzusehen (ich freute mich tierisch), die Urlaubenden, die Zeit hatten und entspannt waren. Und auf Amrum stand mir plötzlich mein bester Freund aus Hamburger Studienzeiten gegenüber, den ich seit 25 Jahren nicht mehr gesehen hatte, inzwischen Professor mit drei Kindern. Und seine Frau ist seine Freundin von früher.

Am Anfang der Küstentour war der politische Rahmen durch die allgemeine politische Stimmung gegenüber meiner Partei gesetzt. Sagen wir, sie war ambivalent. Eine Mischung aus angehaltenem Atem und Krisensehnsucht. Da ich mir vorgenommen hatte, die Stimmung aufzuklaren, wollte ich mich nicht von ihr ablenken lassen. Aber sich nicht ablenken zu lassen ist gar nicht so einfach, wenn man permanent auf den Grad der Ablenkung hin überprüft wird. So definierte die Grüne Gemütslage die ersten Tage – mindestens als Kontrastfolie.

Und dann kam im Südwesten der Republik der Regen in Sturzbächen vom Himmel.

Auseinanderfallen von Erwartungen und innerer Haltung

Was dann folgte, war eine irre Gleichzeitigkeit, ein fast schizophrenes Auseinanderfallen von Erwartungen (Wahlkampfrede) und innerer Haltung (Trauer, Fassungslosigkeit), von Schäfchenwolkenhimmel (hier) und verwüsteten Dörfern (dort), von Urlaubsort und Tod. Ist es schon insgesamt nicht meine Art, Hau-drauf-Wahlkampfreden zu halten, wurden unsere Veranstaltungen zu fast reflexiven Momenten des gemeinsamen Nachdenkens, des Innehaltens – natürlich politisch, denn sie versuchten, den Handlungsauftrag von Politik 2021 zu bestimmen, aber nicht unbedingt parteipolitisch. Was soll ich die Menschen denn auch anschreien, die Grünen zu wählen. Wir sind mündige Bürger*innen. Niemand wird die Grünen wählen, weil ich es ihm/ihr sage. Das Beste, was solche gemeinsam verbrachten anderthalb Stunden leisten können ist, zusammen nachzudenken. Informierte Entscheidungen muss dann jede*r ohnehin für sich selbst treffen.

Schutz von Menschenleben und menschliche Freiheit

Es war vielleicht jene merkwürdige Parallele und Gleichzeitigkeit an der Küste, die durch Sturmfluten und Deichbrüche, durch Küstenschutz und Menschen geformt wurde, und die schrecklichen Geschehnisse im Südwesten, weshalb ich die ganze Zeit jenes Sting-Lied im Ohr hatte:

On and on the rain will fall
Like tears from a star
On and on the rain will say
How fragile we are how fragile we are

Wir sind zerbrechlich. Und die Natur ist nicht nur eine gutmeinende Umgebung, sondern geballte Kraft und Energie. Es liegt an uns, sie nicht noch anzuheizen. Um uns zu schützen.

Nicht jede Naturkatastrophe ist eine unmittelbare Folge der Erderhitzung. Starkregen, heiße Sommer, Waldbrände und Sturmfluten hat es schon immer gegeben – aber die Dichte, die Summe und die schnelle Abfolge der Extremwetterereignisse sind untrügliche Indikatoren dafür, dass die Erderhitzung da ist und Menschenleben kostet. Insofern ist es eigentlich falsch, wenn wir von „Klimaschutz“ reden. Das Klima ist einfach das Klima, es braucht keinen Schutz. Wenn wir das Klima schützen, dann schützen wir in Wirklichkeit Menschenleben und menschliche Freiheit. Also machen wir endlich Ernst damit.

Dieses Ernstmachen ist leicht gesagt, meistens, indem Regierungen die Zielzahlen für die CO2-Reduktion in ferner Zukunft erhöhen. Aber das ist alles nichts wert, wenn diese nicht mit Maßnahmen unterlegt werden. Und zwar mit welchen, die man selbst auch umsetzen kann. Wenn die bayerische Regierung und ihr Ministerpräsident zwar einen schnelleren Kohleausstieg fordern, aber im eigenen Land Windkraftausbau verhindern und die Dächer bisher nicht zu Infrastruktur der Solarenergie machen wollen, dann ist das schlicht eine Variante von „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Überhaupt: Dass wir mehr Erneuerbare brauchen, ist nun wirklich keine neue Einsicht. Und was hat die amtierende Bundesregierung gemacht? Den Ausbau gedeckelt. Der Stromnetzausbau hinkt. Für solch eine Politik ist die Zeit abgelaufen.

Wie vorsichtig wollen wir zukünftig sein

Den Starkregen und die Flut konnte man nicht verhindern. Aber die Frage, wie viel menschliches Leid man angesichts der Vorwarnungen hätte verhindern können, die müssen wir uns stellen. Konnte man wissen, wann was wo stattfinden würde? Wie vorsichtig wollen und müssen wir zukünftig sein? Und wie wollen wir die Vorsicht organisieren? Jetzt wird über Cell Broadcast-Warnsysteme und Apps diskutiert. Zu Recht, denn erstere brauchen wir für die Zukunft, letztere gilt es weiterzuentwickeln. Aber damit ist die eigentliche Frage nicht beantwortet: Ab wann wird vor was gewarnt?

An der Küste, wo ich war, als die Menschen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz starben, gibt es Evakuierungen von Häusern, wenn bestimmte Sturmwarnungen und Pegelstände überschritten werden. Aber dem gingen auch jahrhundertelange Erfahrungen mit Tod und Leid voraus. Sind wir schon in einer ähnlichen Lage? Kann man ganze Landkreise evakuieren, auf den Verdacht hin, dass es Starkniederschläge gibt? Und wenn ja, wie oft und ab wann?

Eine auf wenige hundert Meter genaue Risikovorhersage, die die Wetterdaten mit der Topografie und der Bevölkerungsdichte synchronisiert, ist wissenschaftlich möglich, aber derzeit noch nicht realisiert. Man braucht dafür einen Großrechner und ein Forschungsprojekt. Das wäre idealerweise im europäischen Verbund aufzustellen. Die Gelder dafür bereitzustellen wäre die Aufgabe der nächsten Bundesregierung. Und es braucht eine bessere Übermittlung und Deutung von Daten, eine schnelle und lückenlose Informationskette bis hin zur individuellen Warnung per Cell Broadcast oder App.

Für den Notfall üben

Wir müssen für den Notfall üben. Als Minister habe ich solche Krisenübungen mitgemacht für Stromausfälle, Tierseuchen, Sturmfluten. Wir saßen in Bunkern des Innenministeriums und die Veterinär*innen und Feuerwehren, Polizei und Leitwarten übten die Informationsübergabe. Wir merken, dass das eben keine Trockenübungen sind, sondern dringend notwendige Vorbereitungen für den realen Ernstfall. Der seit 30 Jahren erste und vorerst auch letzte bundesweite Warntag im September 2020 hat gezeigt, wie dringlich wir hier nacharbeiten müssen. Wir sind eine anfällige Gesellschaft und müssen mit Extremen rechnen. Wir brauchen also mehr Übung. Und sensibilisiert sein müssen nicht nur die Expert*innen, sondern auch wir, die Bürger*innen.

Die Herausforderung: Solidarität

Schließlich müssen wir der Natur mehr Raum geben. In den Städten und Dörfern sollten Flächen entsiegelt werden, wo es geht. Man kann Spielplätze, Parks oder Boule-Bahnen in den Senken der Orte anlegen. Regnet es, sammelt sich dort das Wasser und versickert. In Kopenhagen gibt es in den Neubaugebieten Gräben, im Normalfall einfach kleine Naturoasen, im Starkregenfall führen sie das Wasser kontrolliert aus der Stadt. Umgekehrt schützt gegen Hitzewellen nichts so sehr wie Verschattungen und Bäume. Unsere Orte auf eine solche blau-grüne Infrastruktur hin zu überprüfen und auszurichten bringt Lebensqualität und Extremwetterschutz zusammen. Die Flüsse selbst brauchen mehr Platz. Polder und Aufweitungen, damit diese sich ausdehnen können, sind ein besseres Mittel, als immer nur die Deiche höher zu bauen. Gleichzeitig schafft man so neue Auen- oder Bruchwälder, Naturflächen, moorige Gebiete, von denen wir nicht mehr so viele haben und die selbst CO2 binden. Das Problem: die Oberlieger der Flüsse müssen das für die Unterlieger mitmachen, obwohl sie nicht unmittelbar profitieren.

Und das zeigt die Herausforderung: Solidarität. Wir sind als Menschen nicht so sonderlich gut darin, Verantwortung auch für etwas oder jemanden zu übernehmen, das weit weg ist, zeitlich oder räumlich. So richtig fängt für uns Politik meist erst an, wenn es darum geht, selbst direkt betroffen zu sein. Aber so kommen wir nicht durch die nächsten zwei Dekaden. Wir werden diese Zeit nur erfolgreich meistern, wenn wir zwei Dinge ändern: Erstens, nicht zu klein denken, sondern sich einer gemeinsamen Sache verpflichtet fühlen, auch wenn es einem selbst ganz direkt morgen noch nichts bringt. Zweitens, nicht akzeptieren, dass es Probleme oder Herausforderungen gibt, die zu groß sind, um sie zu lösen. Diese beiden Punkte sind die ersten und wahren politischen in diesem Jahr. Und wer diese Motivation schafft, soll die Wahl gewinnen.

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