Der Wunsch, Gräben zu überwinden

Wahlkämpfe enden nicht am Wahlsonntag, 18.00 Uhr. In einem gewissen Sinn zünden sie dann erst die zweite Stufe. Die Interpretation des Wahlergebnisses ist oft so wichtig wie das Wahlergebnis selbst. Ob jemand einen Regierungsauftrag hat, ob jemand zurücktreten muss, hängt auch davon ab, ob die Wahl als Sieg oder Niederlage, als ein Signal des Wechsels (und wenn wohin) oder des Weiter-so gedeutet wird. Dabei geht es – wie so oft  in der Politik –  gar nicht um die eine Wahrheit, sondern um Argumente und Gründe. Und in einer Demokratie geht es um den Streit, ob diese Gründe besser oder schlechter sind. Und so verraten die Argumente vor allem viel über den, der sie benutzt, über seine Absichten, Interessen und Ziele.

Auch ich bin selbstverständlich Teil dieses Streits. Auch meine Deutungen verkünden keine Wahrheit. Aber es gibt für sie Argumente.

Wunsch nach Veränderung vs. weiter so, wie bisher

Bei der Bayernwahl gibt es gerade zwei Lesarten. Die eine sagt, sie war ein weiterer Schritt der Erosion der Volksparteien und in dem Sinn eine historische Zäsur, weil sie neben der SPD auch die Union betrifft. Und die Wahl offenbart einen massiven Wunsch nach Veränderung und nach einer freiheitlichen, inklusiven, pro-europäischen Politik (meine Deutung). Die andere Deutung sagt, es hat sich letztlich gar nichts Dolles ereignet, weil angeblich die Lager, bürgerlich gegen links, stabil geblieben sind und sich die Stimmanteile nur innerhalb dieser Lager verschoben , also Grüne und SPD den Platz getauscht haben. In diese Deutung fügt sich die Entscheidung der CSU, mit den Freien Wählern zu koalieren und also alles so zu machen, wie bisher.

Die Wählerwanderung ist also „lager“-übergreifend

Gegen diese These von bürgerlich gegen links sprechen erstmal die Zahlen. Wenn wir der Wählerwanderungsanalyse von Infratest Dimap Glauben schenken, dann haben die Grünen im Saldo von SPD (210 000) und CSU (170 000)fast gleich viel gewonnen, also lagerübergreifend. Hinzu kommen rund 140 000 Nichtwähler Die CSU hat etwa gleich viel an die AfD und an die Grünen verloren, also lagerübergreifend. Auch die SPD hat an die Linke wie an die AfD wie an die Grünen verloren. Spannender noch: Auch die Gewinne der AfD stammen nur zu etwa einem Drittel von den selbsternannten „bürgerlichen“ Parteien CSU, FDP und Freien Wählern. Die Wählerwanderung ist also „lager“-übergreifend.

System von mehreren mittelgroßen Kräften

Hinzu kommt: Die CSU hat in einem ähnlichen Ausmaß wie die SPD an Zuspruch verloren – etwa zehn Prozent in fünf Jahren. Damit hat sie, die ja lange noch als letzte Bastion der Volksparteien galt, deutlich an Bindekraft eingebüßt. In aktuellen Umfragen sind CDU und CSU bundesweit zum Teil deutlich unter 30 Prozent gefallen. Bei den Landtagswahlen der letzten fünf Jahre erreichten die Unionsparteien im Schnitt etwa 29 Prozent. Wenn dieser Trend – ähnlich übrigens in wie einer Reihe anderen europäischen Ländern – weitergeht, bewegen wir uns auf ein System von mehreren mittelgroßen Kräften zu, die irgendwie miteinander klar kommen müssen. Die Parteiendemokratie in Deutschland wird gerade neu formatiert.

Links und bürgerlich sind keine Widersprüche

Die CSU und eine Reihe von Kommentaren in den Zeitungen aber tun so, als wäre gar nichts passiert. Stattdessen legt sie noch eine Interpretation vor, die irritiert. Sie hängt an dem Begriff „bürgerlich“ und „Lager“. So zeigte die CSU schon am Wahlabend eine Präferenz für ein „bürgerliches“ Bündnis und meinte damit eins mit den Freien Wählern. Das ist ein seltsames Verständnis von Bürger. Sind denn die Wählerinnen und Wähler der SPD oder von der Grünen, unter ihnen ja viele CSU-Wähler und Nichtwähler, keine Bürger Bayerns, oder Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse? Dieses Reden geht auch völlig an der Auseinandersetzung dieses Wahlkampfs vorbei. Gerade SPD und Grüne Parteien waren bürgerlich im besten Sinn. Gerade sie haben auf Rechtsstaatlichkeit bestanden und die liberale Demokratie verteidigt. Vor allem haben sie bürgerliche Tugenden an den Tag gelegt, die viele Menschen bei der CSU vermisst haben. Freundlichkeit, Argumente, eine einladende Sprache, Zuversicht. Links und bürgerlich sind keine Widersprüche.

Ein „bürgerliches Lager“ unter Einschluss der Afd?

Aber gravierender als das ist, dass offenbar einige Medien ein „bürgerliches Lager“ unter Einschluss der AfD konstruieren. Denn nur, wenn man die Stimmen der AfD mitrechnet, macht das Reden von stabilen Lagern wenigstens rechnerisch Sinn Das aber ist ungeheuerlich und adelt eine sich zunehmend rechts radikalisierende Partei. Man muss – und ich möchte das hiermit ausdrücklich tun – die Wählerinnen und Wähler von CSU, Freien Wählern und FDP gegen solche Vereinnahmungen in Schutz nehmen. Diese Parteien sind konservativer, als ich es richtig finde, aber sie sollten nicht mit der AfD in ein Lager gesteckt werden.

Dass niemand aus den Parteispitzen von CSU, Freien Wählern, CDU und FDP dem bislang widersprochen hat, deutet darauf hin, dass sie entweder nicht verstanden haben, welches Spiel hier gespielt wird, oder es billigend hinnehmen. Wenn wir uns aber der Interpretation unterwerfen, es gäbe zwei monolithische Blöcke, und in dem einen sind gleichwertig neben honorigen konservativen Parteien Rechtsextreme, dann steuern wir auf politische Auseinandersetzungen zu, wie wir sie lange nicht erlebt haben. Dann gibt es nur noch die gegen die, dann beginnt das, was wir in den USA erleben: eine tiefe, unversöhnliche Spaltung der Gesellschaft.

Hier löst sich offenbar ein, was CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt meinte, als er im Frühjahr eine „bürgerlich-konservative Wende“ forderte, die CSU Victor Orban zu ihrer Klausurtagung einlud, Herr Dorindt ihn „unseren Freund“ und „bürgerlich im besten Sinn“ nannte und die CSU sich überschwänglich über Orbans Wahlsieg freute – einen Wahlsieg der „illiberalen Demokratie“, wie Orban sein Politikverständnis nennt. Den Wahlsieg eines Mannes,  der nach Auffassung der EU die Gewaltentrennung missachtet, Presse unterdrückt, antisemitistische Ressentiments bedient, Menschenrechtsverletzungen begeht, Korruption und Klientelwirtschaft gedeihen lässt. Die CSU aber twitterte am 9.4., dass dieser Wahlsieg „eine klare Bestätigung von Orbans bürgerlich-konservativem Kurs“ sei. Dass die CSU auf ihrer Wahlkampfabschlusskundgebung den österreichischen Bundeskanzler, Sebastian Kurz, hofierte, ohne ein kritisches Wort darüber zu verlieren, dass dieser mit der FPÖ koaliert, passt ins Bild.

Der neue Kampfbegriff „bürgerlich“ im Sinn einer „konservativen Revolution“ ist also längst gesetzt. Dass er jetzt breit übernommen wird, verkehrt das bayrische Ergebnis ins sein Gegenteil. Bzw. interpretiert es so um, dass neue Gräben aufgerissen werden. Dabei ist das Signal der Wahl ein anderes: der Wunsch, Gräben zu überwinden.

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