Wenn das Vertraute schwindet

In diesen Tagen erscheint mein neues Buch, „Von hier an anders“.  Auf knapp 400 Seiten analysiere ich, wieso eine Politik, die immer nur repariert, nicht mehr an die Größe und Geschwindigkeit des notwendigen Wandels heranreicht und dass es systemischer Veränderungen bedarf, eines neuen Denkens und neuer Konzepte. Das aber sagt sich viel leichter, als dass es sich umsetzen lässt und Mehrheiten dafür gewonnen werden können. Warum, beschreibe ich in diesem Kapitel. Ein Textauszug….

Im politischen Raum sind „Veränderung“ und „Wandel“ meist positiv konnotiert. „Change we can believe in!“ und „Yes We Can“, wie die erste Obama-Kampagne hieß, sind erstmal vielversprechend. Das gilt besonders für die politische Weltsicht meiner Partei, die im Kern eine der Veränderung ist. Das gilt aber auch für Werbung, Geschäftsmodelle, unser Selbstbild: Wandel und Veränderung sind gut, Status Quo ist schlecht. Ich selbst habe das hunderte Male bei Wahlkampfreden ins Publikum gerufen: „Das Festhalten am Status Quo löst kein Problem.“ Und immer wurde geklatscht.

Viele Menschen denken von sich sicherlich, dass sie offen für Veränderungen sind, dass sie Neuerungen spannend finden, dass sie dazu lernen wollen und wissbegierig sind. Aber wir wissen auch: Wenn das Vertraute dann tatsächlich droht zu schwinden, verkrümelt sich unsere Begeisterung fürs Neue dann doch oft recht schnell.

Denn es ist kompliziert. Es gibt eine Anekdote über Albert Einstein. Dieser unterrichtete 1942 in Oxford und ließ seine Physik-Studierenden eine Klausur schreiben. Nachdem die Arbeit eingesammelt war, ging er mit seinem Assistenten über den Campus. Dieser fragte Einstein, ob er nicht exakt die gleiche Arbeit dieselben Physik-Studierenden vor einem Jahr hatte schreiben lassen. Einstein bejahte. Und als der Assistent fragte, warum er das gemacht habe, antwortete Einstein: „Die Antworten haben sich geändert.“

Das kann man übertragen auf unsere Zeit und die Politik. Die Fragen, die wir uns stellen, die eine Gesellschaft beantworten muss, sind nicht wesentlich andere als sie vor Jahren oder gar Jahrhunderten waren, aber die Antworten – vor allem die Antwortmöglichkeiten – sind völlig andere. Was uns in der Vergangenheit geholfen hat, wird uns nicht nur in der Zukunft nicht mehr helfen, sondern diese vielleicht sogar zerstören. Das gilt für unsere Art des Wirtschaftens wie für das Denken in Nationalstaaten oder die Akzeptanz von sozialer Ungleichheit.

Aber wir neigen dazu, das, was in der Vergangenheit passiert ist, in die Zukunft zu verlängern. Wir denken linear. Technisch wie gesellschaftlich. Wir rechnen zum Beispiel nach, wie viele Erneuerbare Energien in der Vergangenheit gebaut wurden, wie viel Energie eingespart wurde, wie viele Elektroautos in den letzten Jahren zugelassen wurden, wie sich das Fliegen und der Fleischkonsum entwickelt haben, verlängern das in die Zukunft und leiten daraus ab, ob und wann wir die Klimaziele erreichen oder nicht.

Aber technische wie gesellschaftliche Entwicklungen verlaufen nicht linear. Sie verlaufen eruptiv, in Sprüngen, sie sind plötzlich da. Die Handys haben die Festnetztelefonie nicht über einen Zeitraum von Jahrzehnten abgelöst, sondern innerhalb weniger Jahre. Fridays for Future entstand nicht, weil jeden Tag ein Mensch mehr auf die Straße gegangen ist, sondern plötzlich ganz viele – ausgelöst durch die Aktion eines jungen schwedischen Mädchens. Pandemien, Kriege, Revolutionen, technische Erfindungen stürzen sicher geglaubte Annahmen in Windeseile um. Aber wir Menschen glauben wieder und wieder, die Zukunft aus der Vergangenheit herleiten zu können. Und das, obwohl wir doch eigentlich wissen, mindestens wissen könnten, dass es so nicht kommen wird, weil es in Wirklichkeit nie so kam wie angenommen.

Doch wir brauchen eben ein gewisses Maß von Sicherheit. Und unser Sicherheitsgefühl beruht darauf, dass etwas verlässlich und kontinuierlich ist, dass es berechenbar ist. So ist unsere Welt im Privaten und im Politischen eingerichtet. Wir denken nach, um es möglichst schnell wieder sein zu lassen. Denn Denken ist eine sehr energieaufwendige Tätigkeit, und als Spezies sind wir darauf konditioniert, es möglichst wenig zu tun, um Energie zu sparen. Deshalb neigen wir zu Ritualen. Darum orientieren wir uns am Vertrauten.

Verhaltenspsychologen haben errechnet, dass wir 95 Prozent des Alltags mit ritualisierten, gewohnten Tätigkeiten verbringen. Etwa 20.000 Entscheidungen pro Tag treffen wir, ohne sie wirklich zu treffen. Wir putzen uns die Zähne, gehen zur Arbeit, laufen immer denselben Weg, fahren Auto und blinken und bremsen, ohne groß darüber nachzudenken. Wir fragen „Was wollen wir essen?“ und jeder denkt automatisch an Pizza, Pasta oder Butterbrot, aber nicht daran, zum Beispiel Regenwürmer aus dem Garten zu suchen, um sie zu einer Regenwurmpaste zu verarbeiten.

Wir gehen intuitiv davon aus, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind, obwohl wir eigentlich wissen, dass sie sich beständig ändern. Privat hilft uns das, Ordnung und Stabilität in unser Leben zu bringen. Für Unternehmen und für die Politik ist das jedoch keine kluge Strategie.

Es war ja beispielsweise lange bekannt, dass Pandemien immer wahrscheinlicher werden, weil die Verbreitung einer Infektionskrankheit in einer vernetzten Welt eine Frage von wenigen Tagen oder Wochen ist. Doch nicht nur die Bundesregierung, sondern vermutlich die meisten Deutschen fühlten sich bei Covid19 sogar dann noch unbeteiligt und beschwichtigten, als in Wuhan bereits der Ausnahmezustand herrschte. Die Logik sagte: „Bald hier.“ Aber das Gefühl sagte: „Weit weg.“

„Change we can believe in“ klingt gut und vielversprechend –  so lange das Leben insgesamt ganz okay ist. Wie viel Veränderung jemand bereit ist zu akzeptieren, hängt stark von dem jeweiligen Zustand des Status Quo ab. Als Menschen, anthropologisch gesehen, scheuen wir eigentlich Veränderung und Wandel. Der Kapitalismus aber braucht den permanenten Wandel, die dauernde Veränderung, das ewige Wachstum. Er arbeitet also gegen die innere Trägheit, die uns wesenhaft ist, an. Er schürt nicht nur die ökonomische, sondern auch die kulturelle Krisenanfälligkeit. Er ist folglich darauf angewiesen, dass die Sorgen und Nöte nicht zu groß sind, der Boden nicht zu schwankend, sodass man glaubt, den Halt zu verlieren.

Denn wir haben Schablonen im Kopf. Unsere Kapazität für Neues ist limitiert. Und schon kleinere Veränderungen verlangen uns oft genug Einiges ab. Das nächste Update des Handys ist nervig. Und wer versucht nicht, die neue Sicherheitssoftware möglichst spät aufzuspielen, aus Angst, alles wieder neu einrichten zu müssen. Neulich hat der Discounter, in dem ich hin und wieder einkaufe, seine Regale umgebaut. Man konnte nicht mehr längs durch den Laden gehen, sondern musste quer laufen. Ich brauchte doppelt so lange, um meine Einkaufsliste abzuarbeiten. Und musste permanent suchen und mich umorientieren. Als ich dann an der Kasse stand, war ich spät dran und schlecht gelaunt. Ich habe nicht gedacht: Super, du hast schon lange kein Labyrinthspiel mehr gespielt, sondern ich habe gedacht: Warum in aller Welt konnten die die Dinge nicht so lassen, wie sie waren? Ich war genervt.

In einer gewissen Weise kann man sagen, dass die Regale der Gesellschaft gerade umgebaut werden. Dass viele Menschen sich nicht mehr zurechtfinden in der beschleunigten Wirklichkeit. Dass einigen schwindelig wird, ob all der Möglichkeiten und Öffnungen. Dass wir – jedenfalls einige von uns – schlecht gelaunt sind und nicht verstehen, warum die Dinge nicht so bleiben können, wie sie waren. Und je fragiler das Leben, je verletzter und verletzlicher es ist, desto stärker werden Veränderungen als Bedrohung empfunden. „Der Verwundbare schätzt nicht den Wandel, sondern Stabilität und Gemeinschaft. Für die oberen Schichten bedeutet Wandel, dass du dich weiterentwickelst oder ein Startup gründest. Für die Arbeiterklasse heißt Wandel meist, dass du gefeuert wirst“, bringt es Robert Misik auf den Punkt.

Viele Menschen haben das Gefühl, sie müssten inzwischen permanent suchen. Auch nach den Werten, die unser Gemeinwesen zusammenhalten: Die großen Leitkategorien wie Arbeit, Familie, Glaube, Lebensglück bedeuten heute ganz Unterschiedliches für die Menschen. Was Familie ist oder Arbeit, was ein glückliches, gelingendes Leben, was das Gute ist, was Deutschland, wann der Mann ein Mann ist – all das ist heute kaum noch allgemein zu bestimmen. Die Annahme, dass alle Bürger*innen des Landes bis zu einem gewissen Grad die gleiche Einstellung haben, trifft nicht mehr zu. Geschweige denn, dass man sich einer Klasse oder einem festen Milieu zuordnet.

Dass die große Mehrheit in einer breiten Übereinstimmung die gleichen Werte teilt, kulturell homogene Vorstellungen vom guten Leben hat, Geschlechterrollen klar wären, es eben eine eindeutige Mehrheitsgesellschaft gibt, gilt heute nicht mehr. Isolde Charim schreibt: „Heute spürt oder ahnt zumindest jeder, dass er selber nur eine Möglichkeit neben anderen ist. Dass seine Identität nicht beanspruchen kann, ‚normal‘ zu sein. Sie kann das nicht für andere – also sie kann anderen nicht mehr vorgeben, was Normalität ist. Wir können es aber auch für uns selbst nicht mehr. […] Denn wir erleben täglich: Wir könnten auch ganz anders leben, wir könnten auch ganz anders sein. […] Und das heißt: Die Vielfalt hält Einzug in unsere Innerstes, in unsere ganz eigene Identität. Ob man das nun will oder nicht.“

In meiner Jugend war das Abo einer Tageszeitung in bürgerlichen Kreisen Pflicht, alle schauten die Sportschau, die Tagesschau und den Tatort, hatten also ein gemeinsam geteiltes Wissen. Es gab noch eine allgemeine Öffentlichkeit. Diese Zeit ist vorbei. Kurz bevor ich Abitur machte, wurden in Deutschland die Privatsender zugelassen. Plötzlich erweiterte sich das Fernsehangebot um 100 Prozent. Statt drei gab es sage und schreibe sechs Sender. Wenn ich das heute meinen Söhnen erzähle, die gerade Abitur machen oder studieren, lachen die und sagen: Wer bitte guckt heute noch Fernsehen? Heute hat man dank der Streamingdienste letztlich das gesamte, jemals gefilmte weltweite Angebot an Filmen und Serien jederzeit zur Verfügung. Ein gemeinsames gesellschaftliches Seherlebnis ist damit faktisch ausgeschlossen – außer vielleicht während einer Fußball-WM. Informationen gelangen über alle möglichen Kanäle, über Facebook, Youtube, Twitter, Instagram, zu den Menschen. Ja, sie sind selbst ihre eigenen Kanäle, brauchen also gar keine Sender mehr, weil sie selbst senden.

Das Internet und die sozialen Medien unterbreiten ein ungemein attraktives Angebot. Sie öffnen neue Möglichkeiten, neue kommunikative Räume. Aber sie verstärken auch eine Tendenz, die schon in der analogen Welt existierte: dass sich gleich und gleich zusammenschließt. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi analysiert in seinem Buch „Muster“, dass der Erfolg der sozialen Medien darin besteht, eine bessere Lösung auf die Frage zu geben: Wie finden wir die, die ähnliche Interessen haben wie wir? Im Nahbereich der analogen Welt waren es Nachbarn, Vereinsmitglieder, Freunde, Kollegen. Bei Instagram, Facebook oder den Dating-Plattformen können es Menschen sein, die wir noch nie getroffen haben. Und wir erkennen Muster, von denen wir gar nicht wussten, dass es sie gibt. Dass zum Beispiel Vorlieben für Tiere oder Reisen etwas mit der politischen Einstellung zu tun haben können, Buchkäufe mit sexueller Orientierung.

So aufregend das ist und so sehr damit auch eine Organisationskraft verbunden ist, politisch kann das zu einem Problem werden. Ein Drittel der Bevölkerung bezieht seine Informationen inzwischen aus den sozialen Medien, von Facebook oder Twitter. Ein allgemeines Wissen, eine gesellschaftliche Grundlage der Debatte, eine Mitte des Diskurses ist immer schwieriger zu finden. Demokratie beruht auf der Interpretation einer gemeinsamen Erfahrung. Wir leben aber in einer Zeit, in der Selbstverwirklichung und Individualismus das gesellschaftliche Paradigma bilden. Und in der die Möglichkeiten des Internets einer Vereinzelung Vorschub leisten und die öffentlichen Räume leeren. Wir müssen nicht mehr in die Innenstädte gehen, um einzukaufen, wir können es im Internet tun. Wir müssen nicht mehr in die Restaurants oder Supermärkte gehen, wir können uns Essen liefern lassen, wir müssen nicht mehr ins Kino, wir haben Streamingdienste. Wir finden Partner in Partnerbörsen, ohne dass wir in die Disco oder den Club gehen müssen. Wir müssen noch nicht einmal mehr zu politischen Debatten gehen, wir haben ja unsere Facebook-Freunde.

Dadurch droht aber eine Gesellschaft die Grundlage für geteilte gemeinsame Erfahrungen zu verlieren. Die Geschichte, die wir uns erzählen, und die Geschichte, auf die wir uns berufen, ist nicht mehr als die eine verfügbar, sie vervielfältigt sich. Das ist gut und gleichzeitig problematisch. Gut ist, dass die Geschichten von Kränkung, Stigmatisierung und Marginalisierung nicht mehr geleugnet werden können, dass Deutschland sich heute aus den Geschichten von Migrant*innen, von Ostdeutschen, von Männern und Frauen, von Jungen und Alten zusammensetzt. Die Wissenschaftlerin Naika Foroutan und die Journalistin Jana Hensel ändern in ihrem Buch „Die Gesellschaft der Anderen“ in Form eines Streitgesprächs die Perspektive und analysieren das Anerkennungsproblem nicht mit dem Blick der Mehrheitsgesellschaft auf Menschen mit Migrationshintergrund und Ostdeutsche, sondern stellen deren Lebensgefühl und Lebenserfahrung als „andere“ ins Zentrum. Es wird deutlich, wie problematisch es für eine Gesellschaft wird, wenn sich die vielen, sehr verschiedenen Geschichten nicht mehr zu einer gemeinsamen Geschichte verbinden lassen. Ob dieses Verbinden noch einmal gelingt, ist mehr als fraglich. In Ausnahmesituationen wie der Corona-Zeit mag das möglich sein, aber die Zersplitterung der Gesellschaft ist dem Prozess der Moderne eingeschrieben und die Kosten einer neuen Meta-Geschichte könnten auch zu hoch sein, wenn sie Menschen die Freiheit und Selbstbestimmung abspricht.

Vielleicht muss man den Spieß umdrehen und sollte nicht mehr daran glauben, dass die Gemeinsamkeit und Geschlossenheit einer Gesellschaft der Normalzustand ist, sondern eher die Ausnahme. Jedenfalls für die Moderne spricht viel dafür, es so zu sehen. Dann wäre die politische Aufgabe nicht, die eine Geschichte zu finden, sondern zu lernen, damit umzugehen, dass verschiedene Geschichten nebeneinanderstehen.

Ich gebe zu, dass dies ein Gedanke ist, der mich sowohl verstört als auch anspornt. Ich habe immer wieder – ich würde sagen, seitdem ich Politiker bin –versucht, die eine Geschichte zu suchen, ihr einen Namen zu geben, sie auf den Begriff zu bringen. Ich nannte sie mal „linken Patriotismus“ oder – in der Sprache der Grünen – „neuen Gesellschaftsvertrag“ oder leitete sie von den großen Herausforderungen ab, die wir zu lösen haben: dem Klimaschutz oder Europa. Aber vielleicht ist weniger in diesem Fall wirklich mehr. Vielleicht besteht die politische Aufgabe und Kunst inzwischen darin, Mechanismen zu finden, die Geschichten nebeneinander stehen zu lassen. Das nämlich wäre ein echtes Gesprächsangebot. Vielleicht kann ein solches Denken dazu beitragen, die Veränderungserfahrung nicht in Empörung und Abwertung, Kränkungen und Gegenkränkungen enden zu lassen. Vielleicht kann so ein Ausstieg aus einer hochgeschaukelten Emotionalisierung erfolgen. Vielleicht kann man so verhindern, dass die Auseinandersetzung mit einer politisch anderen Meinung zu einer affektgesteuerten Feindschaft wird.

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