Weiter denken als bis gestern

Nach der Wahl in Hessen, deren Auswirkungen auf die bundesweite Parteienlandschaft ja massiv sind, Merkel-Rückzug und so, saß ich in einer Talkshow neben dem FDP-Chef Christian Lindner. Fast zum Jahrestag des Scheiterns der Jamaika-Verhandlungen. Wir verwickelten uns in ein Wortgefecht, in dem Christian Lindner mir plötzlich vorwarf, ein Klimanationalist zu sein, weil die Grünen einen deutschen Kohleausstieg wollen.

Von Populismus haben wir im Augenblick ohnehin schon zu viel

Erst habe ich gar nicht kapiert, wie er das meinte. Als Spaß? Dann ist es nicht lustig, denn wenn man Menschen aus Spaß Nationalisten nennt, verharmlost man die tatsächlichen. Oder ernst? Dann ist es eine sprachliche Form von Populismus, die Beschimpfung an die Stelle von politischer Auseinandersetzung stellt. Und von Populismus haben wir im Augenblick ohnehin schon zu viel. Jedenfalls hatte die Diskussion für mich nichts Spielerisches oder Näckisches mehr.

Und was ich auch erst nicht kapiert habe, war, was der Vorwurf in der Sache meint. Klimakrise und Nationalstaat passen ja schon deshalb nicht zusammen, weil das Klima sich noch immer nicht an die Grenzziehung auf Landkarten hält. Und dann komme ich ja aus Schleswig-Holstein, wo gerade eine große Stromleitung nach Norwegen gebaut wird, um Erneuerbare Energien hin- und herzuschicken. Ist jetzt auch nicht gerade so nationalistisch….

Aber Christian Lindner machte dann ja klar, was er meint: Kohleausstieg in Deutschland sei unnötig, weil er nichts bringt und man solle ihn anderswo machen. Sachlich und fachlich kolportiert Lindner mit seiner Argumentation den so genannten Wasserbett-Effekt, wonach die Emissionen innerhalb des EU-Emissionshandels ohnehin gedeckelt sind und jede zusätzliche nationale Maßnahme wie ein Kohleausstieg nur dazu führt, dass die CO2-Zertifikate dann von jemand anderes benutzt werden – also die Menge an CO2 gleich bleibt, sich aber wie in einem Wasserbett nur anders verteile. Die Matratze wird nicht leerer, nur weil sich jemand auf sie legt.

Ein Kohleausstieg führt zu weniger Zertifikaten

Die EU-Emissionshandelsregeln haben genau dies jedoch berücksichtigt und Mechanismen geschaffen, die dem entgegen wirken: Zum einen fließen überschüssige Zertifikate in eine Reserve und werden dort, wenn der Überschuss zu groß wird, gelöscht. Zum anderen kann ein Mitgliedstaat, wenn er Kraftwerke stilllegt, die damit verbundene Menge an CO2-Zertifikaten direkt löschen. Beides ist für einen Kohleausstieg in Deutschland anwendbar. Ein Kohleausstieg mindert also nicht nur die Emissionen an den Kraftwerken, sondern führt auch zu entsprechend weniger Zertifikaten, wenn man die EU-Regeln entsprechend anwendet. Der Zertifikatehandel funktioniert nicht mehr wie ein Wasserbett sonder wie eine Badewanne mit Überlaufventil.

Der Kohelausstieg senkt CO2-Emissionen

Das andere Argument, das immer wieder vorgebracht wird, ist, dass bei einem Stilllegen der deutschen Kohlekraftwerke ja der Strom von woanders kommt und dort dann zusätzliche CO2-Emissionen entstehen. Das gilt aber logischerweise nur, wenn man die Stilllegung der Kohle ohne den Ausbau von Erneuerbaren Energien plant. Es mag sein, dass das aus der Binnensicht der FDP der Fall ist, immerhin lehnen einige Landesverbände der FDP ja den Ausbau der Erneuerbaren ab. Wir aber nicht, und selbst die Bundesregierung plant ja, bis 2030 65 Prozent erneuerbare Energien im Netz zu haben. Und selbst wenn der Erneuerbaren-Ausbau nicht ganz so schnell voran käme, wie es nötig wäre, dann führte ein Braunkohleausstieg in Deutschland nur dazu, dass die Gaskraftwerke in Deutschland, Holland, Österreich und Italien wieder laufen würden – und das hat erhebliche CO2-Reduktionseffekte. Denn sowohl die Atomkraftwerke in Frankreich als auch die Kohlekraftwerke in Polen laufen eh schon auf Hochtouren, da sind Steigerungen praktisch gar nicht mehr möglich.

Dramatik der Lage

Wohlwollend kann man den FDP-Chef so interpretieren, dass Deutschland doch CO2-Emissionen im Ausland mindern solle, weil das viel billiger sei als selbst Klimaschutz bei uns zu betreiben. Im Kyoto-Protokoll ist dies unter dem Stichwort „Clean Development Mechanism“ beschrieben. Nichts spricht dagegen, dass Deutschland auch andere Staaten bei der Energiewende unterstützt. Nur ersetzt die mögliche Unterstützung anderer nicht den deutschen Kohleausstieg. Seit dem Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 ist aus gutem Grund das Prinzip der „Nationalen Klimaschutzbeiträge“ (NDCs, National Determined Contributions“) das vorherrschende. Jedes Land, egal ob Industrie- oder Entwicklungsland, benennt, was es tun wird – und tut es dann auch bei sich. Denn auch die Entwicklungsländer übernehmen ja auch Verpflichtungen. Anders kann man die Klimakrise gar nicht eindämmen. Das Prinzip „Die Industrieländer delegieren Klimaschutz an die Entwicklungsländern und kaufen sich frei“ funktioniert angesichts der Dramatik der Lage nicht mehr. Abgesehen davon, dass wir uns auch fragen müssen, welche Haltung daraus spricht, wenn ein reiches Industrieland von anderen, ärmeren Ländern verlangt, ihre Energieproduktion, ihre Wirtschaftsweise zu ändern, selbst aber nicht mitzieht. Und genauso, ob Deutschland nicht bald selbst das Nachsehen hat, weil es der Innovation nur noch hinterherläuft. Inzwischen fordern ja auch viele Wirtschaftskapitäne einen klaren Rahmen für einen Kohleausstieg einen CO2-Mindestpreis. Wir müssen weiter denken als bis gestern.

Vielleicht überdenken diejenigen, die keine weiteren Klimaschutzanstrengungen und keinen Kohleausstieg in Deutschland wollen, einmal ihre Argumente. Jedenfalls sollten sie den Vorwurf des Klima-Nationalismus nicht mehr erheben. Sachlich und sprachlich ist er falsch.

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