Mieten müssen zahlbar sein – Mehr Sicherheit –- Rot-Grün regiert, das Land verkommt – Wollen reicht nicht, man muss . . . . – Morgens in der Stadt. Wahlplakate im Vorbeifahren. Über manches grinst man, manches ist einfach nur „hä?“ und man muss über die Sprache grübeln (meinen die nicht bezahlbar?). Manches kann ich gar nicht zu Ende lesen, weil das Plakat schon hinter mir ist, wenn ich mit Wort sechs anfangen will. Und bei manchem bin ich überrascht: Die, deren Land Monika Heinold und ich so verkommen lassen, kenn ich gar nicht – wer waren jetzt die liberal-konservativen Reformer noch gleich? Wikipedia sagt, das sind die, die mal AFD und dann mal ALFA (oder Omega?) waren.
Aber eigentlich erfüllt mich dieses Plakate-Hopping mit Kribbeln und mit Pathos (gut, vielleicht nicht jeden Morgen). Es ist Wahlkampf, und das ist etwas, worauf wir stolz sein können. Ja, wir können, wir dürfen wählen: frei, geheim, gleich. Das ist unser verfassungsrechtlich verbrieftes Recht. Und es kommt auf uns an. Auf jede einzelne Stimme. Welch ein Versprechen!
Vor kurzem wurde ich in einem Interview gefragt, ob sich die Gesellschaft wieder politisiere. Ich sagte aus vollem Halse ja, aber dann kam das Gespräch irgendwie auf etwas anderes (und im Interview kam es dann nicht mehr vor). Aber die Frage blieb.
She was always there. And I took her for granted
Seit dem Mauerfall hatten wir uns daran gewöhnt, in einer anscheinend stabilen Welt zu leben. Eine friedliche Revolution in Europa, das Ende des Ost-West-Konflikts, die Osterweiterung der EU als Versprechen von Frieden und Demokratie – das alles sollte und schien unsere gesellschaftliche Grundlage zu sein. Es gab im Großen und Ganzen so vieles, was gut war. Und es schien immer so weiter zu gehen. Eigenes Engagement – kann man machen, muss man nicht. Aber diese lethargische Bewusstseinsbequemlichkeit ist vorbei.
In „The West Wing“ – einer meiner Lieblingsserien – über das Team um den fiktiven liberalen und menschenklugen Präsidenten Jed Bartlet, Gegenbild zum realen Republikaner Bush, herum gibt es eine über viele Staffeln unerklärte Liebesgeschichte: Josh, einer der engsten Berater, und Donna, seine Mitarbeiterin, die eines Tages bei einem Anschlag in Israel lebensgefährlich verletzt wird. Josh fliegt von Washington nach Israel und dann sagt er die beiden Sätze: „She was always there. And I took her for granted“. Es ist der Moment der Erkenntnis, wie viel sie ihm bedeutet. Und er erkennt es, weil er sie zu verlieren droht.
Bushs Nachnachfolger Trump
Die Wahl von Bushs Nachnachfolger Trump– und davor schon der Brexit – war für viele dieser erschreckende Moment der Erkenntnis: Wir wachen morgens auf und spüren bis ins Innerste: unsere liberale Demokratie ist nicht selbstverständlich. Das Brennen für Politik darf man nicht jenen überlassen, die auf ein autoritäres System hinarbeiten, von Hass und Verachtung geleitet. Sie verbrennen die Grundprinzipien unserer Verfassung: Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde werden durch sie zu Asche.
Das ist ein Weckruf. Menschen treten wieder in Parteien ein (und zwar nicht nur in die AFD), sie engagieren sich. Sie kleben Plakate, gehen zu Kreisverbandssitzungen. Leute gehen für Europa auf die Straße. In Frankreich ist Emmanuel Macron wie Kai aus der Kiste gesprungen und hat eine Bewegung initiiert, die sich als Gegenbild zu Le Pen etabliert. Gerade Macron bietet, wonach viele sich offenbar sehnen: etwas, mit dem man sich identifizieren kann, wofür man stehen und streiten kann – im Positiven. Die Politik erwacht wieder. Was für ein Signal der Hoffnung!
Ja, die Zeit des Politischen ist zurück. Eine Zeit des Kampfes, der Auseinandersetzung um Inhalt und Positionen. Einen finalen, paradiesischen Idealzustand, in dem sich alle Widersprüche harmonisch aufgelöst haben, wird es nie geben. Und das ist eine frohe Botschaft! Es wird politisch immer etwas zu tun geben und es wird niemals so sein, dass alle mitziehen. Diese Einsicht macht den Kern der Freiheit aus: das Spannungsverhältnis nicht auflösen zu wollen, sondern als Modell eines gesellschaftlichen Lebens zu begreifen, das bejaht werden will. Eine freiheitliche Politik ist weder eine Politik, die auf Regeln verzichtet, noch eine, die alles regeln will, sondern die unablässig um die Möglichkeiten des Lebens ringt und die verschiedenen Kräfte austariert. Und deshalb: Leute, kümmern wir uns drum!