Als wir gestern Abend um 18.00 Uhr bang und gebannt auf die Bildschirme blickten, und auf dem grünen Balken 9,5 Prozent erschienen, da haben wir gemeinsam gejubelt. Es war ein Jubel der Erleichterung, nicht der Euphorie. Gemessen an den deutlich schlechteren Umfragewerten der vergangenen Wochen und Monate, dem Abgesang auf unsere Partei, haben wir dem Trend getrotzt. Glückwunsch an Katrin und Cem, die echt geackert haben, und an alle, die sich die Beine in den Bauch gestanden haben und die unermüdlich waren: Ihr seid die wahren grünen Helden, Ihr habt das gemacht!
Was Phase ist: Die Republik ist nach rechts gerückt
Dann kam mir beim Verlassen des grünen Wahlfests eine junge Frau entgegen und weinte. Ich nahm sie in den Arm und fragte, was denn los sei. „Wir feiern hier einen Prozent mehr und in Deutschland übernimmt die AfD den Diskurs“, sagte sie. Sie brachte auf den Punkt, was eigentlich Phase ist.
Dieser Wahlabend hat Deutschland erschüttert. Die AfD ist das, was wir werden wollten: drittstärkte Kraft, deutlich zweistellig. Die SPD ist keine Volkspartei mehr, die CDU hat einen Aderlass erlebt. Und die CSU hat ein Jahr vor der Landtagswahl in Bayern nur noch 38 Prozent gemacht und droht jetzt, die Fraktionsgemeinschaft mit der Merkel-CDU aufzukündigen. Obwohl Seehofer mit Obergrenzen und Energiewendeblockade wirklich alles getan hat, um die Themen der AfD zu übernehmen. Klein gemacht hat er sie dadurch gewiss nicht. Ob er schlau genug ist, das jetzt zu erkennen, darf bezweifelt werden. Seine Deutschland-muss-Deutschland-bleiben-Ansage gestern lässt das Gegenteil erwarten.
Die Republik ist nach rechts gerückt; Extremisten sitzen in unserem Parlament. So ernst ist die weltpolitische und die innenpolitische Lage, dass wir uns nun stellen müssen.
Jamaika sondieren – ohne Garantie
Keiner von uns hat Jamaika gewollt, und ich selbst habe, wie Cem, wie Katrin, wie Kretsch, wie Jürgen, gesagt, dass ich nicht sehe, wie solch ein Bündnis zustande kommen kann. Und nach dem Wahlabend gilt das mehr denn je. Aber es geht nicht mehr darum, nur das zu tun, was man sich von Anfang an vorstellen kann. Wir sind eine politische Partei. Eine politische Partei ist kein Selbstzweck, sondern hat die Aufgabe, die Wirklichkeit zu gestalten. Aus demokratischen Gründen meine ich, dass wir Jamaika sondieren müssen. Ernsthaft, nicht taktisch. Nicht taktisch in beide Richtungen: Weder regieren um jeden Preis, noch regieren um keinen Preis. Eng und streng entlang von inhaltlichen Maßgaben.
Für eine solidarische Finanz- und Sozialpolitik
Wir brauchen nicht nur ein paar symbolische Punktsiege, wie brauchen tatsächlich in bestimmten Bereichen eine andere Politik. Neben der ökologischen Transformation gehört dazu eine europäische, solidarische Finanzpolitik, die eine Grundlage schafft, um die Risse in der EU zu schließen. Hier fordern wir vor allem FDP und CSU. Und wir müssen, gerade mit Blick auf eine Konstellation mit den bürgerlichen Parteien für eine solidarische Arbeits- und Sozialpolitik einstehen.
Selbstbewusst verhandeln kann man nur, wenn man jederzeit bereit ist, nicht zu regieren. So waren wir in Schleswig-Holstein erfolgreich. So müssen wir das jetzt auch machen. Dazu kommen Geschlossenheit, Vertrauen untereinander, klare Ziele.
Aus der Verantwortung heraus Grüne neu erfinden
Ich weiß, in der jetzigen Lage wird es nicht einfach, das gilt auch für unsere Partei. Wir haben zwar den Tag gestern mit 0,5 Prozentpunkten mehr als 2013 beendet, das ist okay und keine Niederlage. Aber über den Tag hinaus: Was würde ein Jamaika-Bündnis bedeuten? Es kann uns – siehe FDP nach vier Jahren schwarz-gelb und SPD nach acht Jahren großer Koalition – an die Existenzfrage führen. Oder aber wir sind stark genug und erfinden unsere Partei neu, und zwar gerade aus der Verantwortung heraus. In Schleswig-Holstein haben die Grünen mit +2,6% bei der Bundestagswahl den stärksten Zuwachs in allen Ländern. Trotz Jamaika.
Wir kommen jetzt an einen Punkt, an dem wir noch nie waren. Aber: Sind wir nicht dazu, Wege auch dort zu finden, wo wir noch nie waren?