Warum wir uns vor falschen Fronten hüten müssen
In der letzten Woche war ich wieder in Nordrhein-Westfalen, um die Kandidat*innen meiner Partei, die in die Stichwahl um die Bürgermeister*innenämter gekommen waren, ein bisschen zu unterstützen. Es war eine schier mitreißende Dynamik. So sehr das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die großen Städte gerichtet war, so sehr spürte ich diese Dynamik vor allem in den kleineren Orten. Vielleicht liegt das auch daran, dass ja irgendwie erwartet worden war, dass die Grünen in den großen Städten stark abschneiden, aber dass sie es im ländlichen Raum taten, waren echte Sensationen.
Der Geist der Engstirnigkeit
In Havixbeck, westlich von Münster, knapp 12 000 Einwohner*innen, attackierte die dortige CDU den grünen Kandidaten Jörn Möltgen bissig. Er sei ja gar nicht „von hier“. Stimmt, er lebt auf einem Hof drei Kilometer jenseits der Gemeindegrenze. Nun, wer das als Argument vorbringt, warum jemand nicht geeignet ist, der hat offensichtlich kein Argument. Man könnte sich jetzt damit begnügen, sich darüber lustig zu machen. Man kann es aber auch einmal ernst nehmen und fragen, welcher Geist in einem solchen Denken deutlich wird. Es ist ein Geist der Engstirnigkeit.
Das Ende von Solidarität
Wenn nur Havixbecker*innen für Havixbeck Verantwortung übernehmen können, dann nur Norddeutsche für Nordeutschland, nur Junge für Junge, Alte für Alte, Ostdeutsche für Ostdeutsche, Westdeutsche für Westdeutsche, Menschen mit Behinderung für Menschen mit Behinderung, Frauen für Frauen und Männer für Männer. Selbstverständlich ist es wichtig, die jeweils besonderen Erfahrungen einzubeziehen und ihnen Raum zu geben, selbstverständlich müssen wir an mehr Repräsentanz arbeiten. Aber wenn jede Gruppe, jedes Geschlecht, jeder Ort, jede soziale Schicht nur für sich kämpft, wenn jede und jeder nur an sich denkt, dann ist noch lange nicht an alle gedacht. Eine Gesellschaft lebt davon, dass Menschen unterschiedlichen Einkommens, Alters, Geschlechts, Herkunft sich füreinander interessieren und füreinander einsetzen (zumal wir ja alle ohnehin aus mehr bestehen, als nur einem Merkmal).
Dass der Einsatz über die eigenen unmittelbaren Interessen hinaus nicht immer funktioniert, ist zugegeben. Aber daraus folgt nicht, dass man Gemeinsinn deshalb lassen soll. Das wäre dann ja ungefähr so, als ob jemand, der nicht helfen will, einem anderen die Hilfsbereitschaft verbietet – wie die Große Koalition mit ihrem Innenminister es Bundesländern untersagt hat, Moria-Flüchtlinge aufzunehmen. Ist das eine schon falsch, ist das andere das Ende von Gemeinsinn und Solidarität.
Wir waren schon mal weiter
Und in verschiedenen Bereichen waren wir schon mal weiter. In den letzten Tagen ist – angeheizt durch verachtende, sexistische Bemerkungen von Männern – die Debatte um Chauvinismus und Machtstrukturen in der Gesellschaft (mal wieder) scharf gestellt. Frauen werden durch sexualisierte Anspielungen herabgesetzt und angegriffen, gleichgeschlechtlich Liebende verächtlich gemacht. Es ist offensichtlich, dass einige Männer Schwierigkeiten haben, Macht zu teilen, Macht anders zu denken als es im Lehrbuch des Patriarchats steht.
Das ist deswegen so erschütternd, weil es ja auch anders geht. Es gibt Männer – und nicht zu wenige –, die sich den Alltag, die Zeit mit den Kindern, das Kochen und Putzen mit ihren Partnerinnen teilen wollen (und oft genug noch durch Strukturen der Arbeitswelt daran gehindert werden). Als meine Kinder klein waren und meine Frau und ich uns beide gemeinsam um Kinder, Familieneinkommen und Haushalt gekümmert haben, habe ich ein Buch mit dem Titel „Verwirrte Väter“ geschrieben – aber das war 2008. Heute sind viele Väter nicht mehr verwirrt, sie wissen, was sie wollen – nämlich Feminismus auch als ihre Angelegenheit sehen und in Frauen gleichberechtige Partnerinnen. Und die sich über Chauvinismus empören, wie Frauen, weil es ihr Gesellschaftsbild und Lebensmodell genauso angreift.
Ohne eine solche Haltung, ein solches Denken kann übrigens die Arbeit in Doppelspitzen nicht wirklich gut funktionieren, so habe ich es jedenfalls erlebt. Und die Arbeit in Doppelspitzen hat mein politisches Leben und mein Selbstverständnis geprägt. Geteilte Macht kann doppelte Stärke sein. Warum sollen Männer nicht für Frauen einstehen und Politik machen und umgekehrt? Und die Jungen für faire Renten? Die Alten für Klimaschutz und Kitas? Und die, die schon lange hier in diesem Land leben für die, die es noch nicht so lange tun…
Falsche Fronten
Sexualisierter Machismus, Rassismus, Kirchturmdenken und ein Zurück zum Gestern sind falsch. Durch und durch. Die Angreifer haben dann gewonnen, wenn es ihnen gelingt, uns in Einzelgruppen zurückzudrängen. Wenn wir uns einreden lassen, es gäbe unüberbrückbare politische Unterschiede der Biologie, des Geburts- oder Wohnortes, der Abstammung, dann sind die Frontlinien falsch gezogen. Nein, eine aufgeklärte Gesellschaft hat die Kraft, aus den Unterschieden in Geschlecht, Glaube und Abstammung eine gemeinsame Kultur zu entwickeln. Eine Gesellschaft der Vielen, die zusammenhält, die weltoffen, aufgeschlossen, vorurteilsfrei ist – sozusagen weitstirnig. Insofern: Ja, der Bauernhof ist drei Kilometer von der Ortsgrenze von Havixbeck entfernt, aber ich bin sicher, Jörn Möltgen wird die Interessen der Havixbecker*innen mit Verve und Kompetenz vertreten, über das Wohl seiner eigenen Scholle hinaus. Weil wir eine Gesellschaft sind.