Sonst verlaufen wir uns

Sonst verlaufen wir uns

Das Ergebnis meiner Google-Recherche kürzlich war eindeutig:

„Wir konnten Sichere Herkunftsländer nicht finden.“

Erst war ich irritiert. Alles richtig geschrieben und dann kein Ergebnis trotz der ganzen Diskussion? Ein zweiter Blick: Ich hatte mich zu Google Maps verlaufen, und auf der virtuellen Weltkarte war nirgendwo ein Land namens „Sicheres Herkunftsland“ zu finden.

Nicht doof, das Internet.

Die erste Debatte um die „Sicheren Herkunftsländer“ – damals auf dem westlichen Balkan – kam auf, weil besonders viele Flüchtlinge aus diesen Ländern kamen. Die Einstufung als „Sichere Herkunftsländer“ sollte die Verfahren schneller machen und eine abschreckende Wirkung haben. Die zweite Debatte – diesmal für die Maghreb-Staaten Marokko, Tunesien, Algerien – kam nach der Silvesternacht von Köln 2015/2016 auf, als Männer aus diesen Ländern Staaten gemeinsam mit anderen Männern in Köln Frauen bestohlen und begrapschten, sexuell belästigten und vergewaltigten. Widerlich. Und die Polizei konnte die Frauen nicht schützen.

Straftäter gehören verurteilt und gegebenenfalls abgeschoben, Polizeipräsenz und Innere Sicherheit müssen gestärkt werden. Aber die schnellste und lauteste politische Antwort der Bundesregierung war Anfang 2016: Algerien, Marokko und Tunesien werden zu Sicheren Herkunftsländern. Schwer nachvollziehbar: Wir hatten in Köln ein Problem mit unserer inneren Sicherheit – und deshalb sollten drei Staaten in Nordafrika plötzlich sicher sein?

Seitdem hing der Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Luft, weil sie Angst hatte, an der grünen Mehrheit im Bundesrat zu scheitern. Dann kam der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, ein Tunesier war der Attentäter. Und obwohl dringend reale Probleme gelöst werden müssen – wie arbeiten die Behörden besser zusammen? Wie kann man unter Wahrung des Rechtsstaates einen „Gefährder“ schärfer überwachen, gegebenenfalls schneller abschieben? – die Herkunft von Anis Amri löste die nächste Stufe der Debatte um die Maghreb-Staaten aus.

Keines der realen Probleme wird gelöst

Nun hat Bayern das Gesetz auf die Tagesordnung des nächsten Bundesrates am 10. März gesetzt – kurz vor den Wahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Die Ansage ist klar: Wer gegen die „Sicheren Herkunftsländer“ ist, macht Deutschland unsicher.

Das ist absurd.

Erstens: Keines der Probleme, um die es geht, wird gelöst. Dass die Asylverfahren schneller werden ist ja schon passiert: Die Verfahren für die Maghreb-Staaten sind wesentlich beschleunigt worden, weil praktiziert wird, was wir Grüne im Sommer 2016 vorgeschlagen haben, nämlich eine Priorisierung der Anträge nach Annerkennungsquote.

Zweitens: Die Abschiebung von jenen, die nicht bleiben können, wird durch das Instrument der „Sicheren Herkunftsländer“ nicht schneller. Sie scheitert deshalb, weil Ersatzpapiere fehlen oder die Länder oder Fluglinien sich oft weigern, die Asylbewerber zurückzunehmen.

Drittens: Algerien, Tunesien und Marokko sind nicht sicher. Schon 2016 konnte die Bundesregierung nicht darlegen, dass dort keine politische Verfolgung, Diskriminierung oder rechtsstaatlichen Brüche stattfinden. Seitdem hat sich die Lage verschlimmert, wie Amnesty International berichtet. Konkret heißt das:

Algerien 

2016 wurden laut Amnesty die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit eingeschränkt, friedliche Regierungskritiker, Islamkritiker, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten (die Gedichte geschrieben oder Satiresendungen produziert haben), wurden verhaftet, in unfairen Gerichtsverfahren verurteilt, einer starb unter seltsamen Umständen. Und: Wer eine Frau unter 18 Jahren vergewaltigt, geht straffrei aus, wenn er sein Opfer heiratet – so erlaubt es das Gesetz. Widerlich.

Nebenbei bahnt sich in Algerien die nächste Katastrophe in der Region an: Das Land steuert nach dem Wegfall von Öl-und Gaseinnahmen auf den Staatsbankrott zu, die Preise für Grundnahrungsmittel explodieren, Arbeitslosigkeit und Armut sind enorm. Und Al-Qaida und der sogenannte Islamische Staat stehen vor der Tür. Es sind  Zutaten für einen Staatszerfall – und neue Fluchtursachen.

Man könnte es sich jetzt bequem machen und Algerien, bevor es zerfällt, noch schnell zum „Sicheren Herkunftsland“ machen. Dann ist ja alles gut. Augen zu und durch. Hauptsache hier den starken Macker spielen, aber es hat nichts mit der Realität zu tun. Oder man könnte sich dem widmen, was allzu häufig beteuert wird: Fluchtursachen bekämpfen und durch außen- und entwicklungspolitische Initiativen die Situation im Land verbessern.

Tunesien

Auch für Tunesien gibt es laut Amnesty Berichte über Folter und Verhaftungen. Das Auswärtige Amt schreibt in seinen Reisehinweisen: „In Tunesien besteht weiterhin ein erhöhtes Risiko terroristischer Anschläge“. Das Land ist im Ausnahmezustand. Der Westen gilt als Bürgerkriegsgebiet, die Grenze zu Algerien ist militärisches Sperrgebiet. „Von Reisen in die Gebirgsregionen nahe der algerischen Grenze, im Bereich von El Aioun bis Kasserine, sollte aufgrund von möglichen bewaffneten Auseinandersetzungen abgesehen werden.“ schreibt wohlgemerkt die Bundesregierung selbst.

Marokko

Und Marokko? Gilt zwar als modernes arabisches Land, aber die Beweise, dass dort – wie in Algerien auch – gefoltert wird, sind erdrückend. Gefoltert werden die demokratischen Aktivisten des arabischen Frühlings, die wir unterstützt und bejubelt haben, gefoltert werden Menschen, die die Situation in der Westsahara thematisieren, gefoltert werden Menschen, die illegal ausgereist sind.

Sowohl Marokko als auch Tunesien gelten als Länder, in denen Homosexuelle von besonderer Verfolgung betroffen sind und als Staaten, in denen von einem freiheitlichen Leben in Sicherheit nicht gesprochen werden kann.

Was ist eigentlich ein sicheres Herkunftsland?

Für die Ausweisung als „Sicheres Herkunftsland“ gibt es Regeln. Man kann nicht Voodoo-Politik betreiben und einfach die Länder ausweisen, die einem in den Kram passen. Ein „Sicheres Herkunftsland“ ist nach den EU-Kriterien, dem internationalen Recht (etwa der Genfer Flüchtlingskonvention) und dem EU-Recht (der Asylverfahren-Richtlinie) ein Land, in dem es ein demokratisches System gibt sowie „generell und durchgängig: keine Verfolgung, keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, keine Androhung von Gewalt, keinen bewaffneten Konflikt.“

„Generell und durchgängig“ heißt übersetzt: Wenn es in dem Land ab und zu Folter gibt und in bestimmten Regionen Krieg, dann ist es nicht sicher. Keines der 12 EU-Länder, die das Instrument der „Sicheren Herkunftsländer“ nutzen, hat die Maghreb-Staaten als sicher ausgewiesen. Auch im Vorschlag der EU-Kommission für eine gemeinsame Liste fehlen sie. Die verschiedenen Kriterien des internationalen Rechts und die faktische Lage in diesen Ländern sprechen gegen eine Einstufung der Maghreb-Staaten. Sie sind mit den Staaten des westlichen Balkan nicht vergleichbar.

Alles in allem spricht nichts für die Einstufung von Algerien, Tunesien und Marokko als „sicher“. Weder verkürzen sich die Asylverfahren noch würde die Einstufung vor Straftaten wie in Köln schützen. Daher werde ich meine Hand im Bundesrat nicht für den Gesetzentwurf der Bundesregierung heben.

Zurück zur virtuellen Weltkarte von Google: Seit der große öffentliche Willkommensgruß im politischen Raum verklungen (im Alltagsleben ist er das bei vielen, vielen Menschen ja nicht) ist, dreht sich die Debatte vor allem darum, möglichst viele Flüchtlinge wieder möglichst schnell loszuwerden und das öffentlich zu bejubeln. Der Frage, wie ein humanes Europa unter den Bedingungen großer Fluchtbewegungen, wie Asyl und Einwanderung wirklich funktionieren können, stellen wir uns nicht ernsthaft. Genauso wenig der Frage, wie tatsächlich Regionen demokratisch stabilisiert werden können – politisch, wirtschaftlich und sozial. Bei Syrien und Libyen waren wir zu spät. Soll das noch einmal passieren? Das ist es, worum es gehen muss: Um reale Sicherheit auf der realen Weltkarte. Sonst verlaufen wir uns.

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