Orientierung geben und handlungsfähig werden für die Zeit nach den Volksparteien: ein Blog zum Zwischenbericht unseres Grundsatzprogramms
Zum Wochenende hin werden wir einen ersten Arbeitsstand zu unserem Grundsatzprogramm vorstellen, einen Zwischenbericht. Und irgendwie kommt mir in diesen Tagen, in denen wir so viel diskutiert haben und die letzten Zeilen noch mal durchgegangen sind, immer wieder ein Bild in den Sinn: Da läuft die katholische Großmutter, die noch nie in ihrem Leben auf einer Demonstration war, neben der jungen Feministin mit gefärbten Haaren, der alte IG-Metall-Gewerkschafter neben der Schriftstellerin, der Raver neben der jungen Mutter im Blazer. Sie haben sich wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben gesehen, sie führen völlig unterschiedliche Leben, es sind lauter Ichs. Und eigentlich würde man denken, sie haben miteinander nicht viel gemein. Aber der Ort, der Moment, an dem sie aufeinander treffen, zeigt, dass es anders ist.
Aus unterschiedlichsten Milieus Bündnisse schmieden
Dieses Bild stammt aus dem vergangenen Jahr, es war eine der großen Demonstrationen, bei denen Menschen auf die Straße gingen, um für das einzutreten, was sie eint, nämlich die gemeinsamen Grundwerte, die Freiheit und Würde des Einzelnen in einer offenen Gesellschaft zu schützen, also das, was von den illiberalen Kräften in Deutschland, in Europa in Frage gestellt wird. Es war ein politischer Schlüsselmoment. Er zeigte, welche Kraft sich entwickelt, wenn wir das Gemeinsame nicht bis ins letzte einzelne Ästchen suchen, sondern in gemeinsamen Zielen und auf einem gemeinsamen Grund. Und was passiert, wenn Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus Bündnisse schmieden.
Das schreibt sich natürlich viel einfacher als es ist. Vormals feste Milieus lösen sich gerade ja auf, unsere Leben, die Lebensentwürfe und Lebenswege werden unterschiedlicher; es ist immer schwieriger, auf einen Begriff zu bringen, was Arbeit ist und was Familie und wo man sich geborgen fühlt. Geschweige denn, dass man einer Klasse und einem festen Milieu zugeordnet wird.
Gemeinsamkeiten finden
Die großen, altehrwürdigen Institutionen haben zunehmend Probleme, diese Spannung auszutarieren. Denn dafür wurden sie nicht gemacht. Die Gewerkschaften waren immer rot. Heute hört man, dass ein immer größerer Teil der Gewerkschaften zu den Grünen geht oder anderswo hin. Die Arbeitgeberverbände waren immer unionsnah oder FDP-affin. Aber heute sind viele Unternehmen weiter als die Politik: europäischer, globaler, ökologischer. Auch die öffentlichen und halböffentlichen Institutionen wie Versicherungen, Bildungsinstitutionen, Wohnungsgenossenschaften und Kirchen müssen neue und zum Teil widersprüchliche Aufgaben erfüllen. Und das gilt allemal für den Staat selbst. Ein Zentralismus und ein von-oben-herab, eine Welt der Masterpläne funktionieren nicht mehr.
Aber auch in einer solchen Gesellschaft muss es gelingen, Gemeinsamkeiten zu finden, und zwar über den Tag, über die Stunden einer Demonstration hinaus. Dieser Aufgabe müssen Parteien sich stellen.
Ein Teil von ihnen versucht damit umzugehen, in dem sie das Alte wiederbeleben wollen. Der Versuch ist zunächst vor allem nach innen gerichtet und zielt darauf, das angestammte Milieu zu stabilisieren und sich nach außen abzugrenzen, in der Hoffnung wohl, so wieder Schlagkraft sammeln zu können. Es ist der Versuch, die klassischen Koalitionen der alten Republik wiederherzustellen, die auf der Annahme gleicher materieller oder repräsentativer Interessen mindestens ähnlicher Milieus basierten. Dabei besteht aber die große Gefahr, die gesellschaftliche Wirklichkeit aus dem Blick zu verlieren.
Sich angreifbar machen
Ich glaube deshalb, dass wir neue politische Ideen entwickeln und Brücken bauen müssen, um gesellschaftliche Bindekraft zu entfalten, um demokratische Handlungsfähigkeit und politische Mehrheitsfähigkeit herzustellen. In diesem Sinne arbeiten wir an unserem Grundsatzprogramm.
Die Dinge, die gut gelaufen sind, als ich Minister in Schleswig-Holstein war, waren die, bei denen die verantwortlichen Politiker die Debatte gesucht haben, ausgehend vom Ziel. Das Land zwischen den Meeren produziert viel Windstrom, hatte aber lange Zeit den Stromnetzausbau vernachlässigt. Das ist nachvollziehbar, denn niemand findet Stromleitungen gut. Aber ohne diese ist es nicht möglich, eine Stromversorgung ohne Atom- und ohne Kohlekraft zu erreichen. Also beriefen wir Bürgerkonvente ein, mit einem klaren Ziel: Irgendwie muss der Strom von A nach B kommen, und das nicht irgendwann, sondern schnell. Wir verkürzten die formale Beteiligung, indem wir das Raumordnungsverfahren und das Planfeststellungsverfahren zusammenlegten, schufen dafür aber informelle Möglichkeiten der direkten Einflussnahme auf die Planungen. Die Turnhallen waren voll, und zwar voller durchaus empörter Menschen. Aber wir kamen miteinander ins Gespräch. Wir machten uns angreifbar. Und so entstand erst eine andere Atmosphäre, dann neue konstruktive Ideen. Die Leitung wurde in Rekordzeit genehmigt und ist im Bau, es gab so gut wie keine Klagen, die Naturschutzverbände trugen das Ergebnis mit.
Nicht der kleinste gemeinsame Nenner
In der Atommüll-Endlagersuchkommission gelang es uns, den sehr unterschiedlichen Akteuren aus der gesamten Republik, den Verdacht der zentralistischen Bevormundung aufzubrechen, indem Bürgerforen, zusammengesetzt von gelosten Schöffen, die Entscheidungen begleiten. Da, wo wirkliche Fortschritte bei hochumstrittenen, umkämpften Themen gelangen – beim Konflikt zwischen Naturschutz und Landwirtschaft, Landwirtschaft und Tierschutz, Fischerei und Meeresschutz, Küstenschutz und Nationalpark, Energiewende und dem Schutz von Anwohnern und Natur, Waldnutzung und Wiedervernässung von Mooren – gelangen sie durch runde Tische, durch Einbeziehung von Verbänden, durch die Flexibilität, neue Wege zu gehen; immer mit einem klaren Ziel.
Dabei kann nun wirklich niemand behaupten, dass Gorleben-Anti-AKW-Aktivisten und Vattenfall-Manager einem ähnlichen Milieu entstammen, auch nicht Krabbenfischer und Naturschützer, Tierschutzverbände und der Bauernverband. Aber gerade die Ansichten, die unterschiedlichen Erfahrungen, Fachkenntnisse waren Katalysator. Es entstanden Bündnisse. Nicht der kleinste gemeinsame Nenner war der Schlüssel zum Erfolg, sondern, dass Neues entstand, und durch das Neue eine schnellere und bessere politische Entscheidung. So wurde Politik handlungsfähig und glaubwürdig.
Vom Ziel her denken
Diese Erfahrungen sind Ansporn, die gesellschaftliche Realität voll anzunehmen und aus ihr das Beste zu machen. Und das wollen wir als Bündnispartei: Mitsprache ermöglichen, gesellschaftliche Kreativität aufnehmen und miterzeugen, vom Ziel her denken, nicht von der Interessensgleichheit.
Parteipolitisch haben wir in den letzten Jahren bewiesen, dass wir in unterschiedlichen Bündnissen die gleichen Ziele verfolgen können. In den letzten Jahren regierten die Grünen in den Ländern in acht unterschiedlichen Konstellationen. Die SPD in sechs, die CDU in fünf, die FDP in drei, die Linke in zwei. Keine andere Partei hat einen solchen Bedarf an Koordinierung und Absprachen. Das war und ist nicht immer einfach. Und bedarf Kompromissfähigkeit und Geduld. Aber es gelang, weil aus den unterschiedlichen Erfahrungen und den schwierigen Konstellationen etwas Neues erwuchs. Durch die gesamtgesellschaftliche Verantwortung hat sich der Blick über das angestammte Milieu hinaus geweitet, durch die vielen neuen Mitglieder genauso. Sie hinterfragen unsere Gewohnheiten, öffnen uns immer wieder.
Und dieses Hinterfragen von Gewohnheiten und politischen Praktiken wollen wir jetzt gesellschaftlich anbieten. Es geht darum Orientierung zu geben und handlungsfähig zu werden für die Zeit nach den Volksparteien. Sich zu öffnen, das ist die Stärke.