Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg – Das Klischee brechen

Die erste Woche der Wahlkampfreise in Sachsen und Brandenburg

Die erste Intensiv-Wahlkampf-Woche in Brandenburg und Sachsen: Tagsüber treffe ich Menschen zu Gesprächen im kleineren Kreis, abends Bürgerinnen und Bürger bei Townhalls und danach falle ich voller Eindrücke ins Bett.

Chemnitz: wie unter einem Brennglas

Das galt besonders an einem Abend in Chemnitz, der in gewisser Weise der Höhepunkt der letzten Woche war. Mit Höhepunkt meine ich nicht, dass in Chemnitz am meisten Leute kamen oder die Veranstaltung am schönsten war. Die Veranstaltungen sind alle gut besucht, oft übervoll – in Freiberg und Zwickau 400 bis 500 Besucherinnen und Besucher, in Leipzig 800. In Dresden mussten wir sogar rund 250 Leute wegschicken, weil der Saal nur 600 fasste. Und auch in Chemnitz waren viele da. Nein, Chemnitz war der Höhepunkt, weil dort die Widersprüche, aber auch die Kraft und der Optimismus, die ich in diesen Tagen so intensiv erlebe, wie unter einem Brennglas zu spüren waren.

Wir hatten unsere Bühne vor dem Karl-Marx-Monument in Chemnitz aufgebaut. Vor einem riesigen Karl-Marx-Kopf. Dort, wo sich vor einem Jahr Rechte und Rechtsradikale versammelten, wehten jetzt Regenbogenfahnen. Und rund 500 Menschen klatschten für Weltoffenheit, Klimaschutz und Zuversicht. Aber es waren auch etwa 30 Gegendemonstrantinnen und -demonstranten von Pro Chemnitz gekommen, einer hart rechten, vom Verfassungsschutz observierten Gruppe, die unsere Veranstaltung mit Trillerpfeifen und Rufen sprengen oder mindestens stören wollten. Am Platz war Polizei aufgezogen, in voller Montur.

Wir entschieden uns bewusst, die Gegendemonstrantinnen und -demonstranten nicht des Platzes zu verweisen, sondern unser Ding zu machen. Sie pfiffen sich nach 20 Minuten müde, sie trillerten kläglich weiter. Ab und an nur versuchten sie sich noch mal in Sprechchören, während der sächsische Spitzenkandidat Wolfram Günther und ich auf der Bühne Fragen beantworteten. Sie waren ein verlorener Haufen in einer x-fach überlegenden Menschenmenge. Und die Mutigen unter den Besucherinnen und Besuchern stellten sich bewusst vor sie, schirmten sie mit ihren Körpern ab, diskutierten mit ihnen. Die große Mehrheit ließ die kleine radikale Brüllgruppe — unter ihnen sonnenbebrillte (trotz leichtem Nieselregen) Typen mit Igel-Frisuren — einfach ins Leere laufen.

Zusammenhalt reklamiert den Platz

Demokratie und Zusammenhalt füllten auf dem Symbolplatz vor dem Karl-Marx-Monument den öffentlichen Raum ohne Polizeigewalt, einfach durch Ausübung von Normalität – die manchmal so gar nicht mehr so normal zu sein scheint.

Als ich von der Bühne runterkletterte, war ich erfüllt von diesen zwei Stunden, beeindruckt davon, wie souverän die Chemnitzer Mehrheit ihre Stadt für sich reklamiert hatte. Aber schon nach kurzer Zeit war ich von einigen Leuten umringt, die sich beklagten, dass wir die Rechtsradikalen nicht vom Platz haben räumen lassen. Das seien die Leute, die ihre Namen und Adressen im Internet veröffentlichten, sie bedrohten, die mit Galgen mit Puppen, die ihre Namen trugen, durch die Stadt liefen. Leute, die keine Sekunde zögern würden, sie anzuzeigen, wenn sie eine Gegendemonstration gegen Pro Chemnitz machen würden. Kein Fußbreit dem Faschismus hieße eben auch, ihm keinen Fußbreit entgegen zu kommen. Und es waren gerade die, die sich bei unserer Veranstaltung in Chemnitz mutig vor sie gestellt hatten, die das sagten.

Ich erklärte nochmal meinen Standpunkt. Dass es ein viel stärkeres Zeichen des Sieges sei als es der Einsatz von Gewalt gewesen wäre, dass die Nazis ein kümmerlicher Haufen waren, dass es ein Ausdruck von Stärke war. Aber während ich redete, hatte ich das Gefühl, dass ich zwar gut reden hatte, auf meiner Bühne, auf der Weiterreise, weil ich nicht von hier war. Sie dagegen waren es.

Respekt und Zuversicht in Sachsen und Brandenburg

Am Morgen hatte ich einen Verein besucht, in dem jugendliche Straftäter ihre Haft im offenen Vollzug abbüßen, in Gastfamilien leben, ihren Schulabschluss nachmachen können. Einer der jugendlichen Straftäter war zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt, weil er in der gewalttätigen Hooligan-Szene von Dynamo Dresden und in Bautzen als Neonazi aktiv gewesen war. Er aber wollte damit brechen und stellte sich freiwillig. Jetzt nach fast einem Jahr im offenen Vollzug, traf ich auf einen nachdenklichen, ernsten, schuldbewussten jungen Mann, der sein Leben reflektierte, um es nach vorne zu wenden. Und der sofort Vertrauen gewann. Abends in Chemnitz im Hotelbett dachte ich: Früher hätte er vielleicht einer derer sein können, die da gebrüllt und gedroht hatten.

Ich habe in den letzten Tagen einen großen Bauernhof mit 11.000 Mastplätzen für Schweine besucht, und der Landwirt erklärte erstmal, dass er einen kleinen Betrieb habe – die Nachbarn hätten 60.000 Mastplätze. Und dass er die Grünen zwar ganz gut fände, sie aber nicht wählen könnte, weil er ja auch an seinen Betrieb denken müsste. Ich besuchte den Ort Rochlitz, knapp 6000 Einwohner, wo sich vor fünf Jahren eine kleine öko-liberale Gruppe um den heutigen Spitzenkandidaten der sächsischen Grünen, Wolfram Günther gründete. Sie veranstalten Kulturevents, stellten einen Regionalmarkt auf die Beine und im Mai bei der Kommunalwahl holte diese Gruppe aus dem Stand 38 Prozent.

Anerkennung und Respekt für Lebensleistung

Ich traf den Superintendanten von Borna, wo die alte Emmaus-Kirche von Heuersdorf steht. Heuersdorf ist abgebaggert und von der Landkarte getilgt, seine Bewohnerinnen und Bewohner wurden umgesiedelt – und die Kirche als letzter Rest, um ein ganzes Stück versetzt. Sie ist das Symbol für das Verschwinden, und vielleicht nicht nur das Verschwinden des Dorfes selbst. Vielleicht mahnt der Superintendent deshalb so eindringlich, dass die Lösung beim Braunkohle-Ausstieg nicht nur etwas mit Arbeitsplätzen und Geld zu tun hat, sondern mit einer Suche nach Identität, nach Anerkennung und Respekt für die Lebensleistung, die man selbst und schon Generationen davor erbracht haben, und die nicht erlöschen darf, auch wenn die Industrie, an der sie diese Leistung, den Stolz festmachten, bald der Vergangenheit angehört.

„Der Osten“ ist ein populistisches Narrativ

Ich kann mir nicht anmaßen, für Sachsen und Brandenburg zu sprechen. Was ich erlebe, ist widersprüchlich — verdichtet jetzt, in diesen Wochen, aber schon das ganze Jahr zuvor. Aber politisch gesehen ist schon das eine Feststellung: Was widersprüchlich ist, ist in kein Klischee zu pressen. Und das ist das, was mir nach diesen intensiven Tagen klar geworden ist: Es gibt den Versuch, Sachsen, Brandenburg, Ostdeutschland (aus dem dann „der Osten“) wird, einen Stempel aufzudrücken, ihn zu einem Klischee zu machen. Und das Klischee ist wirkungsmächtig und wirkt in Fragen von Journalistinnen und Journalisten: „Herr Habeck, aber in Ostdeutschland denkt man darüber anders…“, „In Ostdeutschland wollen die Menschen…“, „Warum wählt der Osten rechts?“ „Der Osten ist für die Demokratie….“, „Die Grünen und der Osten…“

Eine Stimmung, die zur Stimme werden kann

Die Übernahme von Stereotypen über „den Osten“ ist schon die Übernahme eines populistischen Narrativs. Der Rechtspopulismus versucht, „den Osten“ für sich zu beanspruchen, inklusive der friedlichen Revolution. Und damit die Spaltung des Landes zu zementieren. Wenn es eine Aufgabe gibt, dann, dass es in den nächsten zwei Wochen in Brandenburg und Sachsen gelingt, dieses Klischee zu brechen, Widersprüche zuzulassen und einer Politik Luft zu geben, die Raum lässt.

Überall erlebe ich Aufbruch. Zuversicht und Mut wachsen. Da ist eine Energie, die einen Raum sucht. Eine Stimmung, die zu einer Stimme werden kann.

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