Wieder den Koffer gepackt, den Zug durch die Winternacht genommen, hier und da blinkten Schneereste in der Dunkelheit auf, und nun wieder in Berlin. Die dritte Woche als Parteivorsitzender beginnt, gemeinsam mit Annalena. Noch immer trägt uns die Energie, die der Parteitag ausstrahlte. Da war so viel Leidenschaft, Sehnsucht und Lust nach Aufbruch. Und die übermächtige, mahnende Botschaft: Macht was draus, aber macht keinen Bullshit!
Eine Dynamik – voller Willen zu wachsen
Also so stürzten wir uns in die Arbeit. Wie ein Snapchat sind die Bilder aus den ersten 14 Tagen: Das leere Büro von Cem und das noch halbwegs eingerichtete von Simone mit der Glasperlenlampe von Claudia, in dem Annalena und ich nun wechselweise oder gemeinsam Rücksprachen machen und Interviews führen. Das Rumlungern im Treppenhaus der Bundesgeschäftsstelle. Die nächtlichen Kopfhörer-Telefonate auf dem Rad durch Berlin, die frühen Treffen, um vor dem ersten Termin die Dinge zu klären. Spontanes Zusammenkommen mit dem Team, Werkstattatmosphäre und die alberne Spannung, das Rumblödeln vor dem ersten Facebook-Live Video, Pizza-Kartons, das zum Bundestag-Laufen. Eine Dynamik des Anfangs, die nach dem Wumms vom Parteitag stiller ist, aber dafür durchdringend und voller Willen zu wachsen.
Wohin wankt unsere Demokratie?
In krassem Kontrast dazu: Deutschland im Taumel. Das nervöse Berlin. Der Anfangszauber wird überschattet von großen Frage: Wohin wankt unsere Demokratie? Ist eine Republik ohne die Volkspartei SPD denkbar? Was, wenn die CDU implodiert? Was, wenn bei der nächsten Wahl – und irgendwann wird ja eine kommen – CDU und SPD zusammen keine Mehrheit mehr haben? Was geht eigentlich grad ab? Bullshit?
Harry Frankfurt schrieb in seinem etwas redundanten Essay „On Bullshit“: „Die gegenwärtige Verbreitung von Bullshit hat ihre tieferen Ursachen auch in diversen Formen eines Skeptizismus, der uns die Möglichkeiten eines zuverlässigen Zugangs zur objektiven Realität abspricht und behauptet, wir könnten letztlich gar nicht erkennen, wie die Dinge wirklich sind. Diese „antirealistischen“ Doktrinen untergraben unser Vertrauen in den Wert unvoreingenommener Bemühungen um die Klärung der Frage, was wahr und was falsch ist, und sogar unser Vertrauen in das Konzept einer objektiven Forschung.“
Güllepötte und die Aufgabe, Politik der Wirklichkeit anzupassen
Vielleicht kann man es so sagen: Die politischen Muster, die Antworten wie die Partei-Arithmetik, passen nicht mehr zu der Wirklichkeit. Und die einen versuchen die Wirklichkeit wieder zurückzudrehen hin zu einer Welt, in der alles – vermeintlich ja auch nur – vertraut und überschaubar war, sicher aber vor allem eng und begrenzt. Die anderen versuchen, die Politik der Wirklichkeit anzupassen. Denn es gibt eine Wirklichkeit, zu der es sehr wohl einen zuverlässigen Zugang gibt. Volle Güllepötte in einem zugefrorenen Land, Landwirte, die nicht wissen, wohin mit dem Zeug und überhöhte Nitratwerte in den Gewässern. Der erneute Ausbruch Rinderherpes, weshalb Bauern ihre Tiere schlachten lassen müssen. Bettler in der S-Bahn, Obdachlose beim Umsteigen an den Bahnhöfen und die Manager von Banken auf den Empfängen.
Kopf klar und Kompass geeicht
Und alles drei – die neue Dynamik in der Partei, das nervöse Berlin und die Wirklichkeit draußen im Land – hängt zusammen und muss zusammenkommen. Wie schaffst Du den Spagat zwischen Parteivorsitz und Ministeramt, wurde ich ein paarmal gefragt, ach eigentlich andauernd. Und praktisch ist es ja ein Spagat, zwei Jobs an zwei Orten, die rund 350 Kilometer voneinander entfernt sind. Aber es gibt ja noch etwas anderes als die Frage, wie man Termine übereinbringt. Und da glaube ich, ist es kein Spagat. Es sind verschiedene Kraftpole. Und im besten Fall führen sie zu einer Politik, die sich nicht von dieser nervösen Gereiztheit anstecken lässt, sondern das Suchen darin erkennt und mit einer lebensverbundenen, beflügelten Idee darauf antwortet. Den Kopf klar und dem Kompass geeicht, den Horizont im Blick und das Herz weit: Rüm hart – klåår kiming, wie es in Friesland heißt, die Alternative zum Bullshit. Mal sehen, was geht.