Es ist ein lauer Spätsommerabend, und für den taz-Salon fährt mich ein Dienstwagen der Fahrbereitschaft in Hamburg vor der Roten Flora vor. Bloß nicht lange stehen bleiben, signalisiert die Polizei. Es ist das erste Mal seit Jahren, das ich am Schulterblatt bin. Im Dienstwagen vorzufahren, fühlt sich noch immer seltsam an, aber in diesem Augenblick, als ich vor der Graffiti-bemalten „Roten Flora“ aus dem fetten, überlangen Audi steige, ist es völlig bizarr – es ist ein krasser Moment der Ungleichzeitigkeit.
Mehr als 25 Jahre ist es her, dass ich in Hamburg lebte und als Zivi beim Hamburger Spastikerverein arbeitete. Ich hatte, ehrlich gesagt, damals keine besondere Lust auf den Zivildienst. Aber ich hatte noch weniger Lust, zur Bundeswehr zu gehen. Zusammen mit zwei anderen betreute ich in Hamburg-Bergedorf acht Menschen, die schwerst- und mehrfachbehindert zugleich waren. Ich habe damals Körper eingecremt, wie ich nie wieder welche gesehen habe. Und ich habe so viel Körperexkremente abgewischt und abgeduscht, dass ich mir fünf Jahre später, als ich Vater wurde und wieder Windeln wechseln musste, vorkam wie im Paradies.
Zur Zivi-Zeit war die Rote Flora gerade frisch besetzt. Und es war aufregend, mitten in der Stadt einen Freiraum zu behaupten. Ich hing da manchmal mit meinen Mitzivis rum, an Sommerabenden – solchen wie diesem jetzt. Und der Schlitten, dem ich an diesem taz-Abend zur Diskussion mit Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz entstieg, stand 25 Jahre vorher für alles, was damals abzulehnen war: für das Establishment. Für die Uneingentlichkeit von Politik. Für Macht und Unverständnis. Und all das sollte jetzt ich verkörpern? Hier, vor der Roten Flora? Habe ich meine Jungend und meine Ideale verraten? Von außen passte nichts zusammen. Das Seltsame ist aber, dass ich mich selbst an diesem Abend gar nicht anders fühlte als damals. Es war, als würde man ein Buch wiederlesen, das einen mit achtzehn umgehauen hat. Und jetzt sieht man all die damaligen Antreichungen und Unterkringelungen und auf einmal laufen zwei Zeiten parallel zueinander. Man trifft jemanden aus der Vergangenheit, der man einmal war. Und man spürt, dass man nicht der geworden wäre, der man ist, ohne diese Vergangenheit. Von Innen betrachtet liegt zwischen Zivi und Minister nur ein Leben und das, so bilde ich mir ein, war im Großen und Ganzen immer das gleiche. Ist das die Selbstblendung, die jeden Politiker vom Alltag abkoppelt? Ist das ein Phänomen des Älterwerdens, völlig unabhängig von Politik? Oder habe nicht nur ich mich verändert, sondern auch die Gesellschaft sich. Ist Deutschland tatsächlich anders geworden? 1991 – das war sieben Jahre vor Rot-Grün…. So anders, dass „das links-rot-grün versiffte 68iger-Land“, wie die AfDler fluchen, viele, viele rote Floristen hervor gebracht hat, die zwar vielleicht inzwischen fette Dienstwagen fahren, aber nicht vergessen haben, was zählt?
Heute bin ich froh, dass ich wenigstens knapp zwei Jahre in meinem Leben Menschen konkret geholfen habe. Ich versinke seitdem jedesmal vor Scham, wenn jemand meinen derzeitigen Beruf als besonders verantwortungsvoll bezeichnet. Und ich finde, irgendwie gehört es zum Leben dazu, schon einmal Scheiße an den Händen gehabt zu haben, die nicht seine eigene ist. Und dass es das ist, was ein Leben erst zum eigenen macht, nicht der verfluchte Dienstwagen.