Brüssel als Hauptstadt Europas. Als Stadt, in der Menschen aus fast allen europäischen Ländern an einer großen Vision arbeiten: eine immer engere Union. So habe ich es die letzten vier Jahre erlebt, wenn wir mit der Landesregierung hier waren. Proeuropäisch, optimistisch, nach vorne gewandt. Gar nicht so sehr wegen der Gespräche mit Kommission, Parlament und Institutionen, mit Botschaftern, Martin Schulz und Jean-Claude Juncker, sondern vor allem wegen der vielen kleinen Momenten am Rande, beim Schnack mit dem Busfahrer im Flughafenterminal, den Sicherheitsbeamten, wenn ich auf meine Akkreditierung wartete, in der Kneipe am Abend.
Europa – nervös, verstört, müde
Aber dieses Mal nicht. Vom Kommissionpräsidenten bis zu den konzentrierten belgischen Soldaten war die Stadt anders, irgendetwas zwischen nervös und müde. Und so doch genau ein Spiegel Europas. Europa ist verstört: dass Großbritannien austritt, dass Nationalisten die Mehrheit im Rat stellen, dass Trump vielleicht Präsident wird, dass Brüssel verwundet ist vom Terror.
Die Große Koalition gilt in Brüssel als Anker und als eine der letzten progressiven Regierungen (während sie aus der innerdeutschen Sicht ja nicht gerade vor Esprit spritzt, und einem Fortschritt und Einheit auch nicht einfallen, wenn man an sie denkt). Und fast in jedem Gespräch habe ich fast flehentlich gehört, egal, was bei der nächsten Bundestagswahl rauskommt, es muss eine stabile Regierung in Deutschland sein, sonst ist Europa durch.
Deutschland muss seine Macht ausüben, indem es dient
Es ist aber eben nicht egal, was dabei rauskommt. Auch nicht für Europa. Denn Europa muss auch in Deutschland anders gedacht und anders gemacht werden.
Deutschland ist eine halb-hegemoniale Kraft in Europa geworden. Vielleicht haben wir diese Rolle nie gewollt und nicht angestrebt. Aber wir haben sie. Und Deutschland übt sie nur verantwortungsvoll aus, wenn sie daraus eine dienende Rolle macht. Wer führen will, muss andere mitnehmen. Der muss von seinen Interessen ein Stück Abstand nehmen, muss in den Hintergrund treten. Darin sind wir nicht gut gewesen. Beispiel Flüchtlingskrise: Griechenland oder Italien oder Südosteuropa mit einem Dublin-Abkommen zu drangsalieren und keinen Finger zu rühren, als diese Länder Hilfe suchten, dann aber moralisch den Zeigefinger zu erheben, wenn Deutschland Hilfe braucht, ist innenpolitisch vielleicht schlüssig, europäisch ist es nicht.
Wenn Leute sich abwenden, müssen wir etwas ändern
In allen Gesprächen in Brüssel wurde über Investitionen gerade in den krisengebeutelten Ländern gesprochen. Die deutsche Austeritätspolitik wurde von niemandem, auch nicht von wirtschaftsliberalen Kommissionsmitgliedern als hilfreich angesehen. Der Punkt an dieser Stelle ist nicht, ob die Austeritätspolitik richtig oder falsch ist (ich finde, sie ist falsch), sondern ob das überhaupt noch eine Rolle spielt, wenn sich Europa deshalb entsolidarisiert. Wenn die jungen Leute in Spanien, Portugal oder Italien sich wegen dieser Politik mehrheitlich von Europa abwenden, dann sollten wir sie ändern. Das gleiche Argument gilt für CETA, über das ebenfalls faktisch überall gesprochen wurde. Mal kurz die Debatte beiseitegeschoben, ob es gut ist, besser geworden oder schlecht steht um die EU. Bei mini-minimalem ökonomischem Vorteil aber maximalem politische Risiko, dass sich weitere Menschen von der EU abwenden, ist es da nicht ein Zeichen von politisch-pragmatischer Klugheit, einmal nicht Macht mit Rechthaben gleichzusetzen und zumindest einmal innezuhalten?
Für eine öko-soziale Politik und eine europäische Mindestbesteuerung
Und dann bleibt die materielle Politik: Ceta, Sparpolitik, Deregulierung, sie stehen für ein Europa, dessen Erfolge an den Menschen vorbei gehen. Wirtschaftswachstum – das Junckersche „Growth“, das von allen Plakatwänden prangt – nimmt den Menschen nicht die Abstiegsangst. Wir brauchen eine Union, die nicht nur Zuchtmeister der Haushaltspolitik und Wettbewerbshüter ist, sondern eine öko-soziale Agenda entwickelt. Hohe Standards für eine europäische Arbeitslosenversicherung, ein Garantieniveau einer europäischen Grundrente, ein europäisches Bafög nicht nur für Studierende und ein Investitionsprogramm nicht nur in die größten Rechenzentren, sondern in die Schulen, Kitas und Altenheime. Und eine europäische Mindestbesteuerung der mulitnationalen Konzerne wie Google, Starbucks, Apple oder Ikea, die deutlich macht, dass wir in einer Marktwirtschaft leben, nicht in einer Machtwirtschaft, wie Gerhard Schick es formulierte.
Ich befürchte, dafür ist diese Kommission die falsche. Aber die Wahlen in Deutschland werden eben entscheidenden Einfluss auch auf die zukünftige europäische Politik haben.
Kneipennachbar
PS: Abends in einer Kneipe saß ich mit einer Kabinettschefin bei einem Bier. Es war eine irische Kneipe und plötzlich kam Nigel Farage herein. Wir verdrehten beide die Augen, als er sich an den Nebentisch setze. Und von dem Moment an ersannen wir Strategien, wie man solchen Typen nicht das Feld überlässt. Da war er wieder, der europäische Geist.
Die Reaktion auf den Brexit und die vielen autoritären Regierungen muss ein Aufbäumen für eine andere Politik sein.