Politik einen Ort geben und dem Zeitgeschehen einen Namen

Wir nähern uns Leipzig. Ich sitze im Abteil mit Annalena und Leuten aus dem Team der Bundesgeschäftsstelle. Bis eben haben wir konzentriert die Anträge durchgesprochen. Jetzt schauen einige aus dem Fenster, andere blättern in Unterlagen, andere machen kurz die Augen zu. Etwas ist mit uns passiert. Die Innensicht auf den Parteitag, auf die Partei, ist gewichen. Die Aufmerksamkeit ist eine andere geworden. Irgendwie spüren wir alle, dass es gar nicht so sehr um uns Grüne geht, auf diesem Parteitag, sondern unsere Gesellschaft. Und ich glaube, es liegt am Ort und an dem Datum.

Der Parteitag findet in diesem Jahr am Wochenende des 9. November statt. In Leipzig, wo Männer und Frauen mit den Montagsdemonstrationen vor knapp 30 Jahren den Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung eingeleitet haben. Und 100 Jahre nach der Ausrufung der ersten deutschen Republik.

Von Objekten zu Subjekten unserer Zeit

In der ersten Novemberwoche vor hundert Jahren stürzte die Monarchie, wurden der Erste Weltkrieg und das grauenhafte Morden in Europa beendet. Die SPD kam an die Macht. Und das, weil Jungs – im Alter meiner Söhne –nicht sinnlos sterben wollen. In meiner Heimatstadt Kiel, an Orten und Plätzen, die ich kenn, machten sie sich selbst von Objekten zu Subjekten ihrer Zeit, vom Kanonenfutter zu Handelnden. Sie dachten über ihre Gegenwart hinaus, sie brachten die politische Vorstellungskraft auf, dass etwas auch anders gehen könnte. Am 9. November fand auch die Reichspogromnacht statt und Deutschlands dunkelstes Kapitel begann. Und die Mutigsten standen gegen den Faschismus auf und wurden von den Nazis getötet – wie Sophie und Hans Scholl und die Mitglieder der Weißen Rose, auch sie im gleichen Alter wie die meuternden Matrosen. Und heute demonstrieren Neonazis mit weißen Rosen im Revers. Eine unerträgliche Umwertung.

Auf dieser Zugfahrt spüre ich, wie Orte und Daten für mich, für uns, an neuer Bedeutung gewinnen. Und ich glaube, das liegt daran, dass unsere Demokratie irgendwie ortlos geworden ist, weil globale und digitale Machtzusammenhänge sich erst dem Verständnis und dann der Regulierung entziehen und Politik wie ohnmächtig nur noch getrieben aber nicht mehr gestaltend agiert. Wir suchen neuen Sinn.

Demokratie ist ihrem Wesen nach unvollendet

Die Geschichte der deutschen Revolutionen gilt als Geschichte der gescheiterten Revolutionen. Ich weiß. Und ja: 1848 wurde niedergeschlagen und die Monarchie erstarkte nach Vormärz und bürgerlicher Revolution. Aber die Rechte, die es in den Verfassungsentwurf der Paulskirche schafften, gelten heute im Grundgesetz und der europäischen Verfassung – die im Übrigen bisher auch nicht Wirklichkeit wurde. Und ja: 1918 wurde von den alten Eliten gekapert und die Weimarer Republik wurde von den Nazis übernommen. Und ja: 1968 führte nicht zur erhofften Revolution, sondern zum Marsch durch die Institutionen – aber hat er diese Republik nicht besser gemacht? 1989 brachte enttäuschte Erwartungen, Brüche im Leben vieler: Aber die Menschen schüttelten die Ketten eines Unrechtsstaates ab, friedlich, durch die Kraft ihres Mutes. Was ich sagen will: Demokratie ist ihrem Wesen nach unvollendet. Wenn sie perfekt wäre, wäre sie keine Demokratie mehr, weil es dann nichts mehr tun gäbe. Aber das heißt nicht, dass all die Kämpfe und all der Einsatz umsonst gewesen wären. Im Gegenteil. Wir sind es den Mädchen und Jungs, die den Frieden, die Freiheit, das Frauenwahlrecht, den Umweltschutz erkämpften, schuldig zu glauben, dass sich der Einsatz des Einzelnen lohnt. Dass es auf jeden von uns ankommt.

Nicht ortlos und ohnmächtig sein

Die Zukunft unserer Demokratie hängt deshalb maßgeblich davon ab, dass Politik den Gestaltungsanspruch und die Gestaltungsmacht zurückkämpft. Politik ist dann relevant, wenn sie auf der Ebene der strukturellen Probleme der Gegenwart agiert. Und das hat sie zu lange nicht getan. Siehe Klimakrise. Siehe Dieselskandal. Siehe industrielle Landwirtschaft. Siehe unzureichende Besteuerung eines digitalen Kapitalismus. Und damit meine ich nicht nur den Skandal, dass Google oder Apple keine Steuern zahlen, ein SPD-Finanzminister die Vorschläge, das zu ändern, ausbremst. Damit meine ich auch Cum-Ex und Cum-Cum-Geschäfte, Sekundenhandel an den Börsen, Lobbyismus von Megafirmen wie Blackrock, die Berater des Staates sind und gleichzeitig Nutznießer fehlender Regulierung. Wenn Politik strukturell nicht mehr in Lage ist, die Dinge zu regeln, dann hat die Demokratie ein Begründungsproblem. Wenn sie die normative Frage nicht mehr beantworten kann, was sie eigentlich will und soll, dann kehren sich Menschen von ihr ab.

Im Zeichen Europas

Unser Parteitag steht ganz im Zeichen Europas. Zu Recht. Denn die großen Herausforderungen unserer Zeit sind globale und transnationale – Klima, Gerechtigkeit, Migration, Globalisierung, Digitalisierung. Und die Nationalstaaten allein sind überfordert, diese zu gestalten. Sie haben zugelassen, dass neue Herrschaftsverhältnisse und neue Oligopole entstanden sind, die wir in einer nationalen, analogen, sozialen Marktwirtschaft niemals zugelassen hätten. Facebook und Google müssten eigentlich eine öffentliche Infrastruktur sein, sind sie aber nicht, sie sind ein hochkommerzielles Gebilde. Blackrock verwaltet ein Vermögen, das dem Bruttoinlandsprodukt Deutschlands entspricht – und konnte es in den letzten zehn Jahren versechsfachen. Ist es im Sinn und Interesse der Gesellschaft, dass Unternehmen mächtiger sind als mächtige Staaten? Sicher nicht.

Demokratie als Praxis der Gerechtigkeit

Aber statt auf diese politische Entmündigung mit einer energischen transnationalen Politik zu antworten, verheddert sich in Politik im Kleinklein. Dass Rechte und Völkische den Nationalstaat des Neuzehnten Jahrhunderts für die Antwort halten, ist nicht überraschend und ihrem eingeschränkten Weltbild geschuldet. Dass aber Bewegungen oder Parteien, die sich als „links“ verstehen, davor nicht gefeit sind, nimmt der politischen Verortung das Progressive. Labour in Großbritannien weiß nicht, wie die Partei zum Brexit steht, in Italien koaliert eine ursprünglich linke Bewegung mit Nationalisten und adaptiert deren Politik, in Deutschland will sie aufstehen, bleibt aber sitzen, wenn 240.000 Menschen auf der Straße gegen Rassismus und Nationalismus demonstrieren.

Aber „Demokratie ist die politische Praxis der Gerechtigkeit“, wie es der Philosoph Rainer Forst neulich auf den Punkt brachte. Eine nationale Politik kann die negativen Konsequenzen globaler Herausforderungen maximal mindern. Bekämpfen und gestalten kann sie sie nicht. Digitalsteuer, Finanztransaktionssteuer, Lobbyregister, auch für Beratungen von Politik, Verbot von gefährlichen Derivaten, ein Kartellrecht für die globale Einflussnahme, die Zurückdrängung von Monopolen, die Wiederherstellung einer sozialen Marktwirtschaft statt einer Machtwirtschaft, das Streichen der steuerlichen Absetzbarkeit von Boni und Gehältern, Steuerschlupflöcher schließen ….

Wenn wir die Aufgaben unserer Zeit lösen wollen, dann brauchen wir wieder die Entschlossenheit, demokratische Praxis zurückzugewinnen. Wie die Kieler Matrosen 1918, die den Krieg beendeten, brauchen wir eine politische Vorstellungskraft, die über den Tag hinaus denkt und die Politik einen Ort gibt und dem Zeitgeschehen einen Namen. Dieser Name ist Gerechtigkeit und der Ort ist Europa.

 

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