Rede gehalten auf dem grünen Länderrat am 17.10.2021 in Berlin. Es gilt das gesprochene Wort.
Noch ist nichts gewonnen. Deutschland hat noch keine neue Regierung. Wir sind noch nicht in der Regierung. Wir haben noch nicht einmal Koalitionsverhandlungen. Aber, auch das muss man sagen, die letzten Tagen und Wochen sind gut angelaufen.
Eine Freundin erzählte mir heute Morgen, dass sie gerade bei einer kleinen privaten Feier Menschen traf, die sie gar nicht so gut kannte. Die nicht so tief im Politischen stecken wie wir. Und die dennoch von einer politischen Hoffnung sprachen. Einer Hoffnung, dass sich nun etwas bewegt, nach Jahren, die in Zement gegossen waren. Dass es nun wieder um das Land geht, die Gesellschaft, dass Politik wieder das Außen erreicht, nachdem die Corona-Zeit im Kern den – unfreiwilligen – Rückzug ins Private bedeutete.
Es scheint eine Hoffnungszeit zu sein. Und wir haben die Aufgabe, diese Hoffnung nicht zu enttäuschen.
Die Bundestagswahl ist mit einem unklaren Mandat ausgegangen und es hätte eine Hängepartie folgen können. Aber seit dem 26. September – wenn man ganz genau hinschaut, schon vor dem 26. September – gibt es eine Aufbruchsstimmung. Und die wird auch gebraucht. Wir müssen schnell sein, denn wir haben ja keine Zeit zu verlieren. Zu viel Zeit ist schon verloren worden – 16 Jahre faktisch. 16 Jahre ohne grüne Regierungsbeteiligung im Bund. Und so können wir tatsächlich gerade ein kleines Stück Geschichte schreiben. Noch ein paar Wochen, dann kann zum zweiten Mal in der Geschichte dieses Landes die Bundesregierung von den Grünen mitgestellt werden. Und das in einer Zeit großer Krisenanfälligkeit, fortgeschrittener Erderhitzung, einer Zeit, in der Demokratien unter Druck stehen, Europa noch nach seiner Verfassung sucht, weltweite Fluchtbewegungen zunehmen, digitale Großkonzerne inzwischen mächtiger sind als Staaten, und die USA und ihre Partner – und damit auch wir – nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan unterliegen. Eine Welt, die ihre alte Ordnung verloren hat.
Und wir können unseren Beitrag dazu leisten, in diesem Wirrwarr Orientierung zu geben. Können dazu beitragen, dass Krisen keine Katastrophen werden, können daran mitwirken, die nötigen Veränderungen anzuschieben, nicht nur, damit es nicht schlimm wird, sondern damit es gut wird.
Mit diesem Verständnis sind wir in Verhandlungen gegangen und haben intensiv mit unseren Partnern gerungen. Und das Ergebnis ist gut.
Ein Sondierungspapier ist noch kein Koalitionsvertrag. Und ein Koalitionsvertrag ist noch keine Wirklichkeit. Das Papier, über das wir heute abstimmen, ist zunächst nur ein Beleg, dass Parteien, die aus ganz unterschiedlichen politischen Spektren zusammen kommen, es hinkriegen, etwas Gemeinsames zu machen. Ein vergleichsweise reifer Text. Aber daraus ist mehr geworden. Wir haben uns auf Leitlinien verständigt, entlang derer wir Koalitionsverhandlungen führen wollen. Wir haben einige Entscheidungen getroffen. Auch solche, die ich falsch finde. Aber nicht so viele. Dass es kein generelles Tempolimit gibt, dass die Mietpreisbremse nicht geschärft wird, dass wir keine Steuern für Superreiche erhöhen können, um die Einkommensschwächeren zu entlasten, gehört dazu. Und es gibt Punkte, die uns fordern, von denen ich noch nicht genau weiß, wie ich sie finden soll, an denen wir aber auch lernen können, beispielsweise die Aktienanlage in der Rente.
Also ja, das, was wir vereinbart haben, mutet uns etwas zu. Und genauso geht es den anderen beiden Parteien. Aber ganz ehrlich, genau das ist auch richtig. Wir als Partei treten an für grundlegende Veränderungen, die der gesamten Gesellschaft viel zumuten. Da müssen auch wir bereit sein, uns etwas zuzumuten.
Wenn man im Tunnel der Verhandlungen ist, verliert man leicht den Blick auf das gesamte Bild. Doch darum geht es. Als Partei, vielleicht als Gesellschaft befinden wir uns in einem lange erarbeiteten Moment eines Umschaltspiels.
Wir treten raus aus der Phase der grünen Papiere und grünen Parteitage.
Wir hören auf, Politik nur zu betrachten und Vorschläge zu machen. Wir haben die Chance, sie umzusetzen. Wir haben die Chance, die Wirklichkeit zu verändern. So, wie wir es in Bundesländern, Dörfern und Städten schon seit Jahren tun, kann es jetzt wieder werden: Wir gestalten die Realität.
Manches wird nicht ganz gelingen. Manches wird im Realitätstest nochmal überarbeitet werden müssen. Auch die Zukunft wird von Reaktionen auf Ereignisse geprägt sein, die wir heute noch nicht kennen.
Aber dieses Sondierungspapier, diese Übereinkunft der letzten Tage, ist der Anfang von dem, wofür wir Politik machen.
Es ist gelungen, wesentliche Themen, die wir für politisch, für gesellschaftlich notwendig halten, die wir lange erarbeitet haben, zum Teil dieser Übereinkunft zu machen. Und wenn wir es jetzt gut machen, erwerben wir das Mandat, sie umsetzen zu dürfen:
Dazu gehören – und ich reiße das hier nur an, sonst wird das eine lange Aufzählerei:
Die Kindergrundsicherung.
12 Euro Mindestlohn.
Eine Gesellschaftspolitik, die der Lebenswirklichkeit der Menschen Rechnung trägt – ein modernes Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrecht.
Ein Bekenntnis, das Sterben im Mittelmeer zu beenden und die Lebenslotterie, bei der man nur mit schierem Glück durchkommt, abzulösen – durch ein System legaler Fluchtwege.
Bürgerräte und das Wahlalter mit 16.
Die Lohngleichheit von Frauen.
Und ja, die ökologische Agenda – eine Ökologisierung der Landwirtschaft.
Beim Klima:
Das Bekenntnis zum 1,5 Grad-Pfad.
Der Kohleausstieg 2030 als Ziel.
Die Ausweitung von Wind auf 2% der bundesdeutschen Fläche und Planungsbeschleunigung.
Eine Solarpflicht.
Und vor allem das Bekenntnis zu Fit für 55 – inklusive dem Enddatum für den Verbrenner.
Das nimmt auch den Schmerz am Tempolimit. Rasen ist noch immer gefährlich, aber das Klima wird damit weniger und weniger geschädigt.
Und bei den Finanzen haben wir festgehalten, dass die notwendigen staatlichen Zukunftsinvestitionen gewährleistet werden – für Klima, für Bildung, für Digitalisierung.
Und das sind hohe Summen. Ausgerechnete 500 Milliarden für Klimaneutralität über die Jahre. Und das wird auch ohne Reform der Schuldenbremse, für die wir bei einer Unions-Opposition wohl kaum die nötigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat erreicht hätten, gelingen. Hinter den dürren Sätzen im Sondierungspapier gibt es konkrete, gute Konzepte dafür. Und es ist meine Erwartung, dass das nun in den anstehenden Koalitionsverhandlungen auch ausbuchstabiert wird. Wie so vieles. Wie alles.
Was bereits erreicht wurde, geht aber über das Sondierungspapier hinaus. Es ist, dass wir als Land den Sinn für die Möglichkeiten weiterentwickeln. Für das, was wir möglich machen. Gekitzelt zu werden von dem Versuch auf unbekanntes Terrain zu gehen – Schritt für Schritt, um nichts kaputt zu machen, ohne Husarenstreich-Propaganda. Aber definitiv neu.
Einen Regierungswechsel, wie er jetzt ansteht, hat es in den 72 Jahren Bundesrepublik nur selten gegeben – aus meiner Sicht nur 69, 82 und 98. Diese Wechsel waren immer weit mehr als das, was die Politik selbst vorangebracht hat. Sie waren immer auch Spiegel der Veränderungen in der Gesellschaft. Sie markierten immer eine Zäsur für neuen Wandel der in der Gesellschaft.
Diesmal hat das nicht der Wahlkampf vermocht, es gab auch nicht die eine große und überzeugende Stimmung, es auf eine bestimmte Art neu und anders zu machen.
Der möglicherweise epochale Wechsel ergibt sich aus der Möglichkeit, aus einem Vielklang in Verantwortung einen Einklang herzustellen. Und dafür haben wir in den vergangenen zwei Wochen im Zusammenspiel mit den anderen die ersten Töne angeschlagen.
Noch ist nichts gewonnen. Noch sind wir nicht am Ziel. Bis dahin ist es viel Arbeit. Und hinter dem Ziel liegt ein neues – und die richtige, harte und fordernde Arbeit erst. Aber was wir geschafft haben, in den letzten Wochen, das kann sich sehen lassen. Dafür danke ich allen, die so hart gearbeitet haben:
Dem kleineren und größeren Sondierungsteam.
Der Bundestagsfraktion und den vielen Kolleg*innen aus den Ländern und Landesregierungen.
Allen voran den Mitarbeiter*innen, die wirklich geschuftet haben. Ihr seid die Bank, auf der wir bauen.
Ich danke für die kritische Solidarität, die wir uns erarbeitet haben, die immer auch ein Vertrauensvorschuss ist, von dem wir wissen, wie kostbar er ist.
Ich danke auch den Verhandlungspartner*innen der anderen Parteien für faire, konstruktive, vertrauliche und sehr professionelle Arbeit. So kann es weiter gehen! Das war stilbildend!
In der kommenden Bundesregierung können BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr Verantwortung für unser Land übernehmen denn je. Sie können Treiber*innen großer Transformationsaufgaben sein und mitverantwortlich für ihren langfristigen Erfolg.
Diese Verantwortung reicht über einzelne Politikfelder hinaus. Sie betrifft die Art, wie Politik entworfen und umgesetzt wird, von der Beteiligung der Bürger*innen bis zur Zusammenarbeit in Parlament und Regierung. Sie betrifft die Grundlagen unseres Zusammenlebens und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Ich beantrage im Namen des BuVos und der Verhandlungskommissionen die Zustimmung zum Sondierungspapier und bitte um das Mandat, jetzt Koalitionsverhandlungen mit SPD und FDP aufzunehmen, um Deutschland eine neue Regierung zu geben, eine Fortschrittsregierung!