Nach Corona: Was wir vermisst haben werden

Worüber wir nachdenken müssen, wenn die Corona-Krise vorbei ist.

Allein im Dreierabteil

Dass alles anders ist, spürt man manchmal in den kleinen Momenten. Ich persönlich letzte Woche auf der Fahrt mit dem Nachtzug von München nach Hamburg. Eigentlich hätte ich Kommunalwahlkampf in Bayern machen wollen, aber wegen des Corona-Virus hatten die Grünen alle Veranstaltungen abgesagt. Wir verlegten den Wahlkampf tagsüber ins Internet, und abends, um 22:50 Uhr, stieg ich in den österreichischen Nachtzug. Ich hatte beim Buchen am Morgen noch Glück gehabt und das letzte freie Bett in diesen immer ausgebuchten Zügen bekommen. Als der Zug losrumpelte, stand ich aber allein im Dreierabteil. Und so blieb es. Ich ahnte, dass meine Mitreisenden aus Sorge, Vorsicht und Rücksicht zuhause geblieben waren.

Die Ausnahme muss Ausnahme bleiben

Es legt sich in diesen Tagen eine seltsame Ruhe übers Land. Die Läden, in denen ich Sonnabend früh meine Einkäufe erledigte, waren fast leer. Cafés: fast leer. Straßen: fast leer. Wenn man sich grüßt, streckt man die Hand kurz aus, um sie dann doch noch zurückzuziehen, wieder in die Tasche zu  stecken und sich stattdessen zuzunicken. Familien bereiten sich auf die Schul- und Kitaschließungen vor: Wie soll es nur gehen, mit den Kindern, mit der Arbeit, dem Alltag, was sagt der Arbeitgeber? Besuche in Alten- und Pflegeheimen werden untersagt – sicherheitshalber. Das öffentliche und soziale Leben, das uns so selbstverständlich ist, schmilzt zusammen: kein direkter politischer Austausch bei Debattenabenden, kein gemeinsamer Kneipenabend mit Skat, kein Theater, keine Konzerte – und was ist mit dem Geburtstag der Eltern, der Großeltern? Voneinander getrennt sein, nicht zusammen … da wird einem mulmig.

Das Land im Ausnahmezustand. Notwendigerweise, um die  Ausbreitung von Corona zu verlangsamen, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren, das Land vor Schlimmem. Aber natürlich ist dieses Leben nicht so, wie wir sind und wie wir sein wollen. Die Krise lässt uns eindringlich spüren, was gut ist an unserer Gesellschaft. Soziale Interaktion, Kultur, Bildung, politischer Austausch und Debatten, dass wir uns besuchen, unsere Angehörigen in den Krankenhäusern. Die Krise vergrößert die Einsamkeit. Wir leben isoliert, wir verzichten auf das, was uns ausmacht.  Deutlich wird in diesen Tagen, dass gar nicht stimmt, was Ökonomen und vielleicht wir selbst uns eingeredet haben, nämlich, dass wir eine Gesellschaft der Konkurrenz sind. Es ist nicht Konkurrenz, es ist Kooperation, die unsere Gesellschaft ausmacht. Das Miteinander. Die Begegnung. Und jetzt, wo all das eben keine Selbstverständlichkeit mehr ist, spürt man, wie wertvoll es ist. Die Ausnahme muss Ausnahme bleiben.

Wir müssen das Klima retten, aber nicht auf Kosten all dessen, was eine offene Gesellschaft ausmacht

Falsch ist deshalb auch, diese Krise als Muster für anderes für nehmen. Sagen wir Klimaschutz. Wir haben im letzten Jahr intensiv debattiert, wie diese große, die Welt auf Jahrzehnte fordernde Krise zu bewältigen ist. Und oft wurde gesagt, gebt doch zu, ihr wollt, dass die Wirtschaft schrumpft, ihr wollt Freiheit einschränken. Schon da sagen wir: Nein, eben nicht!

Wer von schrumpfender Wirtschaft träumt, der kann jetzt am Realbeispiel erleben, was es bedeutet, wenn Aufträge einbrechen und Löhne nicht mehr gezahlt werden, wenn Selbständige, kleine Betriebe, Angst vor der Pleite haben, wenn Arbeitslosigkeit, Entlassungen, soziale Not zunehmen. Und wenn Politik dauerhaft im Ausnahmezustand handeln würde, Freiheitsrechte beschränken würde, dann verlören wir, was uns stark macht. Wir müssen das Klima retten, aber nicht auf Kosten all dessen, was eine demokratische Gesellschaft ausmacht.

Frei und gemeinsam, nicht egoistisch

Eher anders herum wird ein Schuh draus: wenn die Krise etwas zeigt, dann, dass wir auf spezifische Herausforderungen schnell und umfassend spezifische Maßnahmen ergreifen können. Aber die dürfen nicht anti-gesellschaftlich sein. Nichts gegen Konsumkritik und Verzicht auf Schnickschnack, gegen weniger Flüge und andere Mobilität. Aber eine Gesellschaft muss frei, zukunftsoffen und gemeinsam sein. Nicht egoistisch. Gegen das Corona-Virus haben wir noch nicht das Gegenmittel, aber wir werden es irgendwann entwickeln. Wissenschaft ist die Lösung. Und physischer Abstand zwischen Menschen und Vorsorge nur die Notmaßnahme in der akuten Krise. Und die Klimakrise braucht eigene Antworten.

Die Bekämpfung von Krankheiten ist leichter in der Weltgemeinschaft möglich

Manche sehen in der Corona-Krise angesichts der vielen negativen Seiten von Globalisierung etwas Gutes, weil sie einen Systemfehler der hypervernetzten Welt offenbart. Das überzeugt mich nicht. So wenig wie die Ableitung eines neuen Nationalismus als Konsequenz aus der Corona-Krise. Nein, ein Rückzug ins Nationale würde sogar die Bekämpfung der Seuche erschweren. Ja, als Notmaßnahme sind Reisemöglichkeiten beschränkt, Kontrollen werden intensiviert, wir bleiben eher zuhause. Aber wir lernen von Italien oder auch China, von anderen, was hilft und was nicht. Wir brauchen den internationalen Austausch der Forscherinnen und Forscher auf der Suche nach Impfstoffen und Medikamenten. Die Bekämpfung von Krankheiten ist leichter in einer großen Gemeinschaft, der Weltgemeinschaft möglich.

An der Spanischen Grippe starben vor gut 100 Jahren weltweit 25 bis 30 Millionen. Sie verbreitete sich, auch ohne das, was wir Globalisierung nennen. Noch in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts töteten die Pocken Hunderttausende. Heute sind sie ausgerottet. Wie Typhus, Pest, Cholera, Milzbrand, Diphterie, die nur noch sehr, sehr selten auftreten und bald vielleicht Masern oder Kinderlähmung. Das ist durch globale Anstrengungen einer globalen Gemeinschaft gelungen, die Forschung und Fortschritt vorantreibt, Wissen, Produkte und beste Praktiken austauscht und vervielfacht.

Mehr Robustheit für die Realwirtschaft

Richtig ist, die richtigen Lehren aus dem Virus-Geschehen zu ziehen. So, wie wir nach der Finanzkrise 2008 und der Eurokrise lernten, dass ein globaler, ungeregelter Finanzmarkt katastrophale Folgen haben kann und Regeln zur Finanzmarktstabilität einführten: Eigenkapitalausstattung, Trennung von Bankenfeldern. So müssen wir solche Konsequenzen auch für die Realwirtschaft ziehen. Wir sollten strukturelle wirtschaftliche Abhängigkeiten reduzieren, nationale quasi-Monopolstellungen vermeiden. Diversifizierung statt Monopole ist das Motto. Autarkie hingegen ist eine Illusion und Isolationismus gefährlich. Produktionskapazitäten für medizinische Präparate oder chemische Grundsubstanzen sollten ebenso diversifiziert werden wie die Energieversorgung und so verfügbar sein wie Lebensmittel. Das ist keine Absage an globale Kooperation. Aber eine gewisse Regionalisierung der Realwirtschaft in kritischen Bereichen ist angezeigt. Der Markt allein kann das nicht richten.

Auf den Balkonen die Gemeinsamkeit

Als ich in Hamburg aus dem Zug stieg, war auch der Bahnhof leerer als sonst morgens um 9:00 Uhr. Die wenigen Menschen hasteten schnell durch die Wandelhalle. Einige schleppten riesige Tüten oder Rucksäcke voller Einkäufe mit sich. Viele kennen die Bilder… Ich meine, dieses Umsteigen auf den großen Bahnhöfen ist selten schön. Aber diese decamaronische Stimmung ist wirklich fatal. Mir ist in diesem Moment klar geworden, dass die Krise auch eine Lehre für uns bereithält: mit der Mentalität des Preppers werden wir unsere Lebensweise und unseren Planeten erst recht gegen die Wand fahren.

Die Krise jetzt ist schlimm in jeder Beziehung. Für die Menschen, die infiziert sind, für alle, die arbeitslos werden, für das Gesellschaftsgefühl. Da gilt es, sich unterzuhaken – wir uns untereinander. Und der Staat die Menschen, durch Hilfsfonds und Notprogramme. Ob wir stärker aus der Krise rauskommen, ist noch nicht ausgemacht. Aber irgendwann wird sie vorbei sein. Und deshalb sollten wir uns jetzt schon klar machen, was wir vermisst haben werden. Ich sah gerade ein kleines Video, aus Italien: Dort, wo Menschen sich nicht mehr frei bewegen dürfen, Geschäfte und Restaurants dicht machen mussten. Auf den Balkonen waren Männer, Frauen, Kinder. Die winkten einander zu, tanzten und sangen miteinander.

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