Mit dem Geld ins Grab steigen?

Die pandemische Ethik und der Gemeinschaftsgeist

Diese Rede habe ich bei der Verleihung des Max-Weber-Preis für Wirtschaftsethik gehalten. Das iW Köln zeichnet Nachwuchswissenschaftler*innen für herausragende Beiträge zur Wirtschafts- und Unternehmensethik aus. Ich habe mich über die Einladung sehr gefreut.

Es ist mir eine besondere Ehre, dass Sie mich gebeten haben, die diesjährige Festrede zur Verleihung des Max Weber Preises zu halten. Hat es mich doch dazu veranlasst, mich nochmal mit Webers Texten und seiner Bedeutung heute zu beschäftigen. Dabei ging der Griff ins Bücherregal zuerst zu „Die protestantische Ethik und der ‚Geist des Kapitalismus‘“, ein Reclam-Band, zerlesen und zerknickt – zu mehr hat es wegen meiner protestantische Ethik nicht gereicht – und mit lauter Unterstreichungen am Seitenrand, mit denen ich heute nichts mehr anfangen kann. Dafür mache ich mir jetzt andere Notizen. Ach was, das ist untertrieben. Ein Wochenende lang habe ich das Buch erneut gelesen. Ich konnte fast nicht fassen, wie aktuell es ist, wie aktuell Weber ist. Mindblowing, wie man jetzt plattdeutsch wohl sagt. Nun erwarten Sie sicher von mir keine Weber-Exegese, sondern eine Idee, eine Deutung, wie sich seine Gedanken politisch anwenden lassen. Gleich.

Webers Geist des Kapitalismus

Lassen Sie mich dennoch versuchen zusammenzufassen, was das Buch zu einem so aktuellen macht: Webers ‚Geist des Kapitalismus‘ zeigt, dass die Dinge und Verhältnisse, die wir vorfinden, nicht selbstverständlich sind. Und dass sie nicht unabhängig von einer kulturell-normativen Tiefenebene sind, ja ohne diese nicht mal möglich wären. Dass beispielsweise Religion Wirtschaftsdenken determiniert. Webers Analyse nur zur Illustration: Es gibt im Protestantismus keine Prädestination. Man muss sich im Leben selbst seinen Sinn suchen. Und dieser Sinn kann sich in wirtschaftlichem Erfolg messen lassen. Im Protestantismus der calvinistischen Prägung definiert der wirtschaftliche Erfolg sogar die Heilserwartung. Damit wird er so erfolgreich, ja dominant, dass er am Ende eine universale, schließlich von der Religion und damit einem höheren Sinn entkoppelte kapitalistische Gesellschaft schafft. Und am Ende alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst.

Hierin gründet sich, dass wir gesellschaftlichen Aufstieg für erstrebenswert halten, dass Emanzipationsbewegungen aller Art gleichen Zugang und gleiche Teilhabe an der Arbeit, am Lohn, am Wohlstand und an den Machtstrukturen der Gesellschaft haben wollen. Dass Arbeit im Mittelpunkt aller politischen Anstrengungen steht – und nicht, Zeit zu haben. Dass die, die arbeiten, voller Missgunst auf die schauen, die es nicht tun – Obdachlose, Arbeitslose – oder auf die, die es vermeintlich nicht tun – Künstler*innen, Musiker*innen, Schauspieler*innen – ach, nur brotlose Kunst, wie es gern hieß. Der Satz „Es gibt kein Recht auf Faulheit“ von Gerhard Schröder ist der Geist des Kapitalismus at work. Und es gibt eine Reihe von Statistiken, die belegen, dass Menschen Steuerbetrug oder Schwarzarbeit weit weniger anrüchig finden als Arbeitslosigkeit. Alles muss etwas nützen. Deshalb muss Gewinn auch immer wieder investiert werden, um weiteren Erfolg zu schaffen (hier würde ich übrigens mir angesichts der Debatte über Schwarze Nullen und Schuldenbremse manchmal mehr protestantische Ethik wünschen). Am Ende geht es darum, wer mit dem meisten Geld ins Grab steigt, um zu Gott zu gelangen.

Ethik und Wirtschaft – Wachstum als Notwendigkeit?

Den Kern des Kapitalismus macht nicht aus, dass Gewinne erzielt werden, dass es Geld gibt und noch nicht einmal, dass es Derivate und Handel mit Schuldscheinen gibt, das alles gab es schon im 2. Jahrtausend vor Christus. Der Kern des Kapitalismus ist die permanente Notwendigkeit zu wachsen. Ein Wirtschaftssystem, das auf Wachstum ausgerichtet ist, befriedigt schließlich nicht nur unsere Bedürfnisse, sondern es schafft stets neue. Wir wussten nicht, dass wir Handys brauchten, bis sie da waren. Kaum jemand wollte Urlaub in Thailand oder Australien machen, bis es möglich war. Niemand dachte daran, für 30 Euro nach Lissabon zu fliegen, bis das Angebot geschaffen war. Und die meisten Menschen essen nicht so viel Fleisch, weil sie es brauchen, um ihren Eiweißbedarf zu decken, sondern weil es da ist und billig angeboten wird. Angebot und Nachfrage sind im kapitalistischen System eben nicht zwei kommunizierende Röhren, die ausbalancieren, wie viel zu welchem Preis angeboten wird, sondern eine Spirale, die sich immer höher schraubt. Kapitalismus bedeutet, in neue Technik, neue Märkte zu investieren, die dann neue Güter oder Dienstleistungen in großer Menge herstellen, die dann wiederum in großer Menge verkauft werden müssen.

Die Notwendigkeit zu wachsen gab es in all den Gesellschaften zuvor nicht. Deshalb aber gab es bei Gesundheitsversorgung, Lebenserwartung, Bildung, Mobilität in all den Jahrhunderten zuvor kaum eine Verbesserung. Die Kindersterblichkeit war und blieb hoch, die Gesellschaften blieben agrarisch strukturiert, die politischen Systeme feudal – bis durch die Erfindung des Kapitalismus das Wachstum in die Welt kam. Der Kapitalismus hat durch die Hyperglobalisierung inzwischen fast die ganze Welt erfasst und bestimmt heute nicht nur die industrielle Produktion oder Dienstleistungen, sondern in seiner digitalen Dimension auch die persönlichsten Ressourcen der Menschheit: Freundschaft, Sprache, Liebe. Aber das Interessante ist – und darauf werde ich zurückkommen – es ist eine normative, gesellschaftliche Einstellung, ein Glauben, der diese Wirtschaftsform geschaffen hat.

Die vier prämierten Arbeiten spiegeln exakt das breite gesellschaftliche Spannungsfeld, mit dem Wirtschaft nicht nur heute zu tun hat, sondern das Weber aufgemacht hat, wider.

  • Gender Equality und Nachhaltigkeit
  • Human vs. Artificial intelligence
  • Ethische Unternehmenskultur und die Bemessung von Integrität in Unternehmen
  • Verhaltensethik in Unternehmen, Organisationen und Märkten

Den Preisträger*innen, Carlotta Tautz, Florian Neihaus, Quirin Kissmehl, Ann-Kathrin Crede herzliche Glückwünsche und alles Gute für weitere Arbeiten und den weiteren Lebensweg. Wir brauchen Kritik und kritisches Denken, vielleicht mehr denn je.

Innovation und Ausbeutung – die Erfolge und die Kosten des Kapitalismus

Der Kapitalismus hat uns unfassbare Erfolge beschert. Auf der Welt lebt es sich insgesamt gesehen heute besser und sicherer, reicher und satter, gesünder und länger als es jemals für eine Menschheitsgeneration auf diesem Planeten galt. Vor hundert Jahren betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland 50 Jahre. Heute liegt sie bei mehr als 80 Jahren und viele, die heute jung sind, werden mehr als 100 Jahre alt werden. Das Max-Planck-Institut errechnete 2018, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland um 3 Monate pro Jahr steigt. Global ist die Lebenserwartung den Vereinten Nationen zufolge um 50 Prozent gestiegen, in der westlichen Welt um 25 Prozent. Selbst die Zahl der Kriege und der Kriegstoten ist in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari begründet das in „Homo Deus“ damit, dass (Zitat Anfang) „heute die zentrale Stelle des Wohlstands Wissen [ist]. Und während man Ölfelder mittels Krieg erobern kann, kommt man auf diese Weise nicht wirklich an Wissen. Da aber nun Wissen zur wichtigsten Wirtschaftsressource wurde, lohnte sich Krieg immer weniger, und er beschränkte sich zunehmend auf die Teile der Welt – etwa den Nahen und Mittleren Osten sowie Zentralafrika –, wo noch immer altmodische materialbasierte Ökonomien vorherrschen.“ (Zitat Ende)

Aber von Anfang an sind dem Kapitalismus Wachstumsparadoxen eingeschrieben – mindestens vier. Durch die arbeitsteilige Gesellschaft verbesserten sich die Arbeitsbedingungen, entstanden Freiheiten und Wohlstand – aber auch Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Märkte tendieren zu Monopolen und damit zur Zerstörung der Marktmechanismen, die sie hervorgebracht haben. Konkurrenzdruck führt zu Lohndruck und damit immer wieder zu einer Entkoppelung von Produktivität und Kaufkraft, was wiederum zu künstlicher Stimulation und zu Spekulation führt, die dann in Börsencrashs enden. Und schließlich führt immerwährendes Wachstum zur rücksichtlosen Ausbeutung der Erde, denn es braucht immer mehr Rohstoffe, um den Energiebedarf zu befriedigen.

Eine der Grundstrukturen des Kapitalismus ist, dass er ein permanentes Verlangen nach mehr schafft. Nach besser. Nach neuer. Und das ist so gut wie schlecht. Es ist gut, weil es Fortschritt belohnt und damit Anreize zu gesellschaftlichen Verbesserungen schafft. Es ist schlecht, weil es inzwischen nicht nur einige Industriebranchen, sondern unsere gesamte Erde zu zerstören droht. Die ökologischen Kosten, die früher keinen Effekt auf Preise hatten, fangen an, uns zu überfordern. Die Folgekosten von schlechter Luft in den Städten sind höher als der Aufwand den es braucht, Mobilität so auszurichten, dass sie die Luft nicht mehr verpestet. So sehr uns der Kapitalismus unfassbare Erfolge beschert hat, Wohlstand, Bildung, Gesundheit, Nahrung in Mengen, so sehr drohen uns gerade die Bedingungen für seinen Erfolg über den Kopf zu wachsen. Das spricht nicht notwendig gegen einen „Geist des Kapitalismus“, wohl aber gegen eine Ethik, die sich seiner bedient, insofern sie den ökonomischen Erfolg mit Seelenheilserwartung gleichsetzt. Neue Entwicklungen, neue Produktionsverfahren, neue Technik können sehr wohl Teil der Rettung des Planeten sein. Seit 1990 sind die CO2-Emissionen der EU um 23 Prozent gesunken – nicht genug, ja, aber sie sind gesunken, während das Bruttoinlandsprodukt um satte 61 Prozent gestiegen ist. Insofern ist es möglich, Wachstum und Energieverbrauch zu entkoppeln.

Es ist Zeit für eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft.

Mit der sozialen Marktwirtschaft wurde dem Kapitalismus nach dem zweiten Weltkrieg eine Richtung gegeben. Jetzt ist es Zeit, das Wirtschaftsmodell zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft zu erweitern, die die allgemeinen Regeln neu setzt, durch CO2-Bepreisung, Divestment und Umlenkung der Kapitalanlagen, eine nachhaltige Globalisierung durch Lieferkettengesetze und neue Freihandelsverträge, die Climate Boarder Taxation oder Contracts for Differences verankern, so es steuerlich nicht mehr günstiger ist, ökologische Schäden anzurichten, etwa durch die Produktion von Plastik, durch ein Agrarfördersystem, dass die Intensivierung und den wachsenden Ressourcenverbrauch begünstigt. Nötig ist eine Umkehr: Steuerlich begünstigt wird klima- und umweltfreundliche Produktion und Wirtschaftsweise.

Wir, die heutige Generation und vor allem wir in den reichen Ländern der nordwestlichen Hemisphäre, verbrauchen mehr als wir haben. Wir leben von geborgter Zeit und geliehenem Wohlstand. Die ökologischen Kosten unserer Wirtschaftsweise, des ungezügelten Mehr, Besser, Neuer, sind längst nicht mehr tragbar. Sie funktioniert nur noch, weil wir uns über die Konsequenzen selbst täuschen, weil wir nicht hinsehen und verdrängen. Denn der globale Kreislauf führt dazu, dass der reiche Nordwesten die Kosten, auf denen sein Wohlstand basiert, auslagert. Wir importieren Kohle und Öl, deren Abbau bzw. Förderung in Kolumbien oder Nigeria schwere ökologische und soziale Schäden anrichten. Wir nutzen seltene Erden, Lithium, deren Abbau jede Menge Wasser verbraucht, das dann oft der dortigen Landbevölkerung fehlt, oder Kobalt, das im Kongo auch durch Kinderarbeit in engen Gruben gewonnen wird, für Batterien in unseren Handys oder Elektrofahrzeugen. Und wir schicken einen Großteil der Wertstoffe als Müll und Abfall wieder in Staaten wie Malaysia oder Indonesien, wo sie in offenen Deponien in die Umwelt gelangen.

Die Mehrung von Gewinn und Eigentum durch Wachstum als Ziel des kapitalistischen Wirtschaftens kann nicht mehr Selbstzweck sein. Es muss sich anderen Werten unterordnen, Werten, die die Ausbeutung der einen nicht zum Nutzen der anderen machen, sondern Werten, die aus der Globalisierung eine globale Verantwortung machen.

Mit Corona kam ein extremer Einbruch, von dem noch unklar ist, welche Märkte sich wann erholen werden. Klar ist aber, dass eine Politik, die ihre Aufgabe darin sieht, die Fehlentwicklungen des Marktes zu reparieren, nicht mehr ausreicht. Wenn man drüber nachdenkt, war das nie der schlauste Gedanke. Müssen wir wirklich immer warten, bis uns die Probleme über den Kopf wachsen und die Dinge zusammenbrechen? Märkte sind nicht einfach da und der Staat steht ihnen gegenüber. Märkte sind das Resultat von Regeln. Und nichts spricht dagegen, dass die Regeln anders gesetzt werden können. Dass Hilfen in der Corona-Krise mit zukünftig notwendigen Transformationen konditioniert werden. Dass wir Ausgaben und Kosten anders berechnen, Ausgaben für Bildung beispielsweise. Und dass staatliches Handeln sich auf die großen Ziele konzentriert – eine klimaneutrale Wirtschaft, plastikfreie Meere, Überwindung von Hunger, Sieg über die Pandemie – und ausgehend von solchen Zielen die Märkte, die Forschung und Entwicklung, Technologie und Erfindungsgeist zeigen, was sie können. Das wäre großes Regieren.

Aber es ist keine Marktfrage allein. Wenn Weber recht hat, dass Denken und Glauben unsere Wirtschaftsweise prägen, dann stellt sich die Frage, wie und ob die globale Pandemie das Denken verändern kann oder wird.

Die Pandemie als Paradigmenwechsel – Vom rechten Populismus zum Humanismus?

Martin Luther King hielt am 18. März 1968, kurz vor seiner Ermordung, eine Rede in Memphis vor streikenden Müllleuten. Erlauben Sie mir, sie hier zu zitieren: „So often we overlook the work and the significance of those who are not in professional jobs, of those who are not in the so-called big jobs. But let me say to you tonight, that whenever you are engaged in work that serves humanity and is for the building of humanity, it has dignity, and it has worth. One day our society must come to see this. One day our society will come to respect the sanitation worker if it is to survive, for the person who picks up our garbage, in the final analysis, is as significant as the physician, for if he doesn’t do his job, diseases are rampant. All labor has dignity.“ (Zitat Ende)

Der Mensch, der unseren Müll aufnimmt, ist genauso wichtig wie der Arzt. Wenn der eine seinen Job nicht macht, verbreiten sich Krankheiten, wenn der andere es nicht tut, genauso.

Kann die ökonomische Folge und ihre moralische Ursache aktueller zusammengefasst werden? Wie sehr beide verflochten sind, kann man auch in der politischen Rhetorik ablesen, also da, wo die kulturellen Normen zur Wahl gestellt werden. Obamas „Yes, we can“ ist ein Satz, der das kapitalistische Aufstiegsversprechen an die eigene Leistungsfähigkeit zurückbindet. „You can, if you want“, „Wir wollen allen eine Chance geben“, „die hart arbeitende Mitte“, „es gibt kein Recht, in der sozialen Hängematte zu liegen“, „dass jeder seines Glückes Schmied ist“ – an der Sprache der Politik erkennt man, die normative Grundlage unserer Debatten. Und sie sind erstaunlich nah, ja, ich würde sagen, erschütternd nah an der Erfindung des modernen Kapitalismus, wie ihn Weber diagnostiziert. Es ist der Glaube, – und Glaube muss man es nennen –, dass alle Menschen gleiche Voraussetzungen haben, dass sie durch Selbstoptimierung, vor allem durch höhere Bildung, ihre Anlagen ausprägen können, und durch Fleiß und Leistungsbereitschaft ihr Glück erarbeiten können. Und dass allein durch Leistung jeder die gleiche Menge an Glück erreichen kann.

Ich muss Ihnen nicht sagen, dass sich in solcher politischen Rhetorik dann doch eine erschütternde politische Unaufgeklärtheit ausdrückt. Sie verkennt Ungleichheit. Sie verkennt, dass Vermögen Vorteile verschafft, dass Kinder unterschiedliche Startbedingungen mitbringen und wenn sie mit unterschiedlichen Voraussetzungen die gleichen Mathearbeiten oder Diktate schreiben, Benachteiligung systemimmanent ist. Und dass die Aufwertung von kognitiver Arbeit – bis hin zu unanständig hohen Managerboni – und die Abwertung von körperlicher Arbeit eine Gesellschaft zerreißen kann.

Corona hat die Bedeutung von systemrelevanten Berufen vom Kopf buchstäblich auf die Füße gestellt. Es hat das „Kein Recht auf Faulheit“ pervertiert. Es hat die, die besonders viel riskiert haben, besonders hart getroffen, die Selbstständigen, die Soloselbständigen, die Freiberufler*innen, die Kreativen. Es hat die sozialen Ungleichheit verschärft – zwischen jenen, die kurzarbeiten, den Armen, Alleinerziehenden, in engen Wohnungen mit schlechtem Internet Homeschooling machen und denen, die bei voller Lohnzahlung ihre Businessmeetings in Videokonferenzen auslagern konnten, zwischen dem Restaurantbetreiber oder der Klavierlehrerin, die pleite sind, und Amazon-Aktionären, die gewonnen haben. Die Börse hat in Corona zugelegt, die Realwirtschaft ist eingebrochen.

Und jetzt die Weberfrage: was macht das mit der Gesellschaft? Es kann sein, dass es gar nichts macht und dass wir nach einem Ende der Pandemie – wenn es so was überhaupt geben wird – einfach weiter machen wie bisher. Es kann auch sein, dass danach Konsum und Wettbewerb erst Recht anspringen, dass es nicht nur Nachholeffekte gibt, sondern einen Kaufrausch. Es kann aber auch sein, dass das Paradigma sich ändert. Erste Anzeichen gibt es. Es wird über das Patentrecht diskutiert und dass es nicht unantastbar sein kann, wenn die Menschheit Medikamente braucht. Europa kann erstmals gemeinsame Anleihen ausgeben. Wesentliche Hürden, um Hartz IV als Grundsicherung zu beziehen, sind ausgesetzt. Die Schuldenbremse auch. Die Rolle des Staates wird stärker. In den USA soll der Mindestlohn auf 15 USD steigen. Und der Leiter des ehemals neoliberalen Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, schlägt eine globale Vermögensbesteuerung vor.

Vielleicht beginnt grad nach einem Jahrzehnt des rechten Populismus eine neue Dekade des Humanismus, eine neue Renaissance, in der Gewinne investiert werden und nicht Leben sich im Orbit der Wirtschaft befindet, sondern umgekehrt. Weil eine gemeinsam durchgestandene Ausnahmesituation zeigt, dass wir es gemeinsam besser können, gemeinsam schaffen können. Weil wir wissen, dass eine bestandene Gefahr Gemeinschaft schafft. Das wäre dann die Grundlage für einen anderen Kapitalismus, vielleicht für etwas ganz anderes, das heute noch keinen Namen hat. Eine Geschichte, die noch nicht geschrieben ist. Aber ist es nicht das, was wir eigentlich alle einmal erleben wollen? Teil einer Geschichte zu sein, die wir selbst schreiben, die wir zusammen schreiben? Und wenn eine oder einer von ihnen ein neuer Max Weber werden sollte, wäre es nicht großartig, er oder sie würde am Ende der Karriere ein großes Buch verfassen mit dem Titel „Die pandemische Ethik und der Gemeinschaftsgeist?“ Und der Ausgangspunkt ist das Jahr dieser Preisverleihung. Ich hoffe, Sie laden mich dann zur Buchpremiere ein.

Vielen Dank und Ihnen alles Gute!

Das Video der Festrede kannst Du Dir auf YouTube anschauen.

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