Der Tag begann mit Kirchenglocken, Kürbissen und „Wir pflügen und wir streuen“. Dann Spielmannzug, geschmetterte Marschmusik in den blauen Oktoberhimmel über Fehmarn, dahinter ein alter, geschmückter Vorderlade-Trecker: auf ihm der Bischof, die Landfrauenpräsidentin, der Bauernverbandspräsident und ich. Dahinter die Gilden der Gemeinde. Hinter den Fahnen von Schützenverein, Reitverein, Freiwilliger Feuerwehr reiht sich ein bunter Zug eher alter als junger Menschen. Der Erntedankgottesdienst ist vorbei, der Umzug schließt sich an. Das halbe Dorf ist auf den Beinen. Ach was, das ganze. Leute winken.
Eine ältere Dame beklagt sich über den Maisanbau, die Landschaft habe sich so sehr verändert. Ein anderer hat Angst, dass sein Grundstück enteignet wird, wenn die feste Fehmarnbelt-Querung kommt. Und die Kohlernte ist gut, aber wann denn endlich das Russlandembargo gelockert wird, will ein Kohlbauer wissen. Die Preise für seine Gemüse sind im Keller – und damit sein Verdienst schmaler. Die Angelverbote im Fehmarnbelt sind gut für die nicht-geangelten Fische, aber schlecht für den Matrosen auf dem Angelkutter, der jetzt um seinen Arbeitsplatz fürchtet, wie er mir mit Wut im Bauch erzählt. Er tippt mir mit seinem Finger auf meine Brust, und versucht dem Ärger nur kanalisiert Ausdruck zu verschaffen. Und auf Fahrt am Morgen sind mir die leeren Häuser in den Dörfern aufgefallen, während im Radio von Wohnungsnot in den Innenstädten gesprochen wurde.
Der Erntedank-Gottestdienst ist ein Pflichttermin für jeden Landwirtschaftsminister seit mindestens 1493 oder so. Ich habe ihn immer gern gemacht. Dieses Innehalten und sich mal klar machen, dass Politik und Technik doch nicht alles im Griff hat, auch wenn wir Politiker das immer gern suggerieren.
Die Landeserntedank-Gottesdienste sind in den letzten Jahren politischer geworden. Von Lebensmittelverschwendung über Tierhaltung bis zu Handelsverträgen wurde in den Jahren in Predigten und Grußworten die ganze Agenda der Agrarpolitik angesprochen. Diesmal aber genoss ich vor allem die Tradition selbst – ja, ich, der so was eher spießig und altbacken und überkommen findet, saß ich da und dachte: wie besonders.
Nach dem Erntedank Gottesdienst checke ich kurz die Zugverbindung für heute Abend auf meinem Handy. Regionalbahn-ICE-S-Bahn. Dauert lange, okay, aber letztlich fahren die ICEs öfter als der Schulbus hier. Die öffentlichen Verbindungen – auf dem Land gibt es sie gar nicht. Hier sind es die Menschen, die verbinden.
Das Innehalten war auch eine Pause in der Hast der letzten Tage. Und weil ich grad meine halbe Woche in Berlin verbringe, fiel mir auf, wie konkret vieles von dem, was ich dort abstrakt beredet hatte, hier ist: Energiewende, Verkehrspolitik, Verhältnis zu Russland, Naturschutz. Wenn man im Paul-Löbe-Haus in der Hauptstadt sitzt, fühlt man sich schrecklich wichtig und klug, und dann sagt es sich leicht, dass wir nun auch mit der Wärmewende anfangen müssen, gegenüber Putin harte Hand bewahren müssen – beim Dorfplausch bei Erntedank wird es wirklich. Auch in dem Sinn macht das einen demütig.
Ich bin schon wieder auf dem Sprung nach Berlin. Der Tag endet im Zug, und am Abend in der Talksow werden alle wieder fragen, warum sich die Politik von den Menschen entfremdet. Und wieder über die Wut reden und die Protestwahl und warum das so ist und was man tut dagegen. Und ich vermute, wenn Anne Will mich so etwas nachher fragt, dann denke ich wieder politisch, an Regionalisierungsmittel und Politik für den Ländlichen Raum und wie die Energiewende nur im Modus des Kompromisses funktionieren kann. Aber heute Abend wird sich das fremder anfühlen als sonst. Und vielleicht geht es nicht nur mir so. Vielleicht sitzen außer mir x Leute an ihren Schreibtischen, in ihren Büros, ihren Redaktionen, und fragen sich, was passiert da draußen eigentlich. Und andere stehen draußen und sind sauer und sagen, ihr da oben. Und die Welt zerfasert. Es war rappelvoll in der Kirche und auf dem Umzug. Und ich saß auf Strohballen, die nach Sonne rochen. Jetzt ist der Zug ist voll, ich sitze im auf Flur auf meinem Rucksack, wie die anderen, die keinen Platz gefunden haben. Eine strickt, einer liest Noten und ich tippe. Die gleiche Stimmung. Menschen gemeinsam auf dem Boden. Nur dass die Sonne grad untergegangen ist.