Politik muss verallgemeinern. Literatur, wenn sie gut ist, zeigt uns Menschen in ihrer Kreatürlichkeit und Individualität. Und nicht immer kriegt man das zusammen. So ging es mir mit Carsten Jensens neuem großen Anti- Kriegs-Roman über Afghanistan „Der erste Stein“.
Carsten Jensen ist so was wie ein dänischer Literaturstar. Und einer, der immer wieder von links politisch interveniert. Einer, mit dem sich kein dänischer Regierungsvertreter mehr auf einem Podium sehen lassen will. Gestern habe ich mit ihm seinen neuen Romanvorgestellt. Er erzählt von einer dänischen Militäreinheit in Afghanistan, von jungen Männern und einer Frau, die vor Kraft nur so strotzen, einige getrieben von Missionseifer, andere von Abenteuerlust und manche auch nur vom Bock auf Ballertum. Der Roman erzählt von der Langeweile und endlosen Fitness-Einheiten im Militärlager mitten in der Ödnis, mitten in einem Krieg, den die Soldaten überhaupt nicht verstehen. Vom ersten Töten, dem ersten leibhaftigen Opfer, vom ersten Mal konkreter Todesangst mit in die Hosenscheißen, vom ersten Rausch der Gewalt, vom ersten Verlust der Kameraden. Von der Sehnsucht nach etwas, das bleibt. Danach, dass der Einsatz einen Sinn hat.
Das Buch, mit dem Jensen berühmt wurde, hieß „Wir Ertrunkenen“. Ein Seefahrerroman. Und wie Seefahrer im 19. Jahrhundert, die mit kleinen Booten über den Atlantik segelten und oft genug nicht wussten, ob sie lebend zurückkehren, wissen das heute die Soldaten nicht. Menschen am Rand der eigenen Existenz – das ist das zentrale Motiv.
Spirale von Gewalt: Nur noch die Wahl zwischen falsch und falsch
Der Roman treibt die jungen Soldaten immer weiter die Spirale aus Gewalt und Verrat, aus Hass und Rache hinab. Grausamkeit, ganz gleich auf welcher Seite. Aber welche Seiten gibt es denn in diesem Krieg? Taliban, Warlords, private Sicherheitsdienste, NATO-Kräfte, Zivilisten, wer ist wer? Alles ist unübersichtlich, verschwimmt. Und es gibt für die jungen Dänen keine richtige Entscheidung mehr, nur noch die Wahl zwischen falsch und falsch – aber welche Entscheidung ist falscher als die andere? Am Ende ertrinken alle in einem Meer aus Schuld.
Seit mehr als 15 Jahren sind westliche Truppen in Afghanistan. Es gab Momente, die den Einsatz zu rechtfertigen schienen: Es gab Bilder von Frauen, die ihre Burkas abnahmen, von Mädchen, die wieder in die Schule durften, von ersten Wahlen, Bilder von Soldaten, die Brunnen bauten. Die Bilder suggerierten, was suggeriert werden sollte: Soldaten auf Friedensmission, es gibt gar keinen Krieg – wie ja auch Jahre lang von der Bundesregierung nicht einmal das Wort „Krieg“ benutzt wurde, ganz nach dem Wunsch: Was man nicht benennt, existiert nicht.
Als nach dem 11. September 2001 der Einsatz begann, hat es viele innerlich zerrissen. (Die Grünen allemal, und ich kenne Menschen, die wegen dieser Entscheidung und ihrem Gewissen aus der Partei ausgetreten sind). Durfte Deutschland sich beteiligen? Musste es das sogar – aus reiner Staatsraison und Bündnistreue, weil es als Partner an der Seite der USA zu agieren galt? Ist das genug für einen Krieg? Oder konnte der Einsatz dazu beitragen, ein Land von einer Gewaltherrschaft zu befreien und nach Jahrzehnten des Krieges eine stabile Demokratie aufzubauen? Oder durfte Deutschland sich vielleicht einfach nicht beteiligen, weil Krieg immer falsch ist? Und müsste man nicht jetzt die Truppen, die noch dort sind, abziehen, weil es ohnehin aussichtslos ist?
Politik muss auch im moralischen Dilemma entscheiden
Aber Politik handelt von Entscheidungen. Nicht immer ist die Wahl zu treffen zwischen richtig und falsch, sondern oft genug zwingt uns die Wirklichkeit dazu, zwischen falsch und vielleicht weniger falsch zu entscheiden. Wir werden dafür gewählt, auch in einem moralischen Dilemma nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen zu treffen, und nie, nie lässt sich das Rad zurückdrehen.
Krieg ist immer falsch, aber manchmal ist er weniger falsch als nicht einzugreifen. Wenn wir selbst weniger Schuld tragen, gäbe es dann insgesamt weniger Schuld? Oder mehr?
Ich habe damals, in der Situation nach dem 11. September, Deutschlands Beteiligung für die weniger falsche Entscheidung gehalten. Weil die Taliban den Terroristen Al-Quaidas Unterschlupf gewährten, weil ihre Herrschaft so grausam war und das Land so geschunden. Und weil ich den Kosovo-Einsatz vor Augen hatte, der, auch wenn er höchst umstritten war, den Krieg dort beendet und mit langem Atem für Stabilität in der Region gesorgt hat.
Der Westen hat in Afghanistan aber unsagbar viele Fehler gemacht. Dazu gehört etwa, dass die USA unter Präsident Bush 2003 willkürlich und mit Lügen gerechtfertigt den Irak-Krieg vom Zaun brachen (den ich von Anfang an für falsch hielt) und sich nicht mehr auf Afghanistan konzentrierten. Der Westen hat die Lage unterschätzt, er hat vielleicht zu lange nicht mit den gemäßigten Taliban verhandelt. Und seit dem Rückzug eines Großteils der Truppen Ende 2014 wird die Lage immer instabiler. Und die Opferzahlen steigen.
So, wie der Roman von Jensen einen verstört zurücklässt, tut es auch dieser Krieg. Krieg ist eine moralische Verirrung. Dabei ist die individuelle Schuld durchaus schwer festzustellen. In einer Mischung aus Pragmatismus und Zynismus machen die Menschen alles immer nur schlimmer, ohne wirklich böse zu sein. Wie Politiker, die die Abschiebung nach Afghanistan aus politischen Gründen rechtfertigen. Aber wenn alles zu rechtfertigen ist, was ist dann falsch? Wo ist die Grenze? Gibt es noch eine Grenze?
Lapidare Post von Gabriel: Lage in Afghanistan wird weggewischt_
Vor ein paar Tagen hatte ich in meiner Post als Minister ein Schreiben von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel. Er bestätigte darin lapidar, was die Bundesregierung seit Monaten behauptet, nämlich, die Lageeinschätzung für Afghanistan habe sich nicht geändert. Er wischt damit den Berichte des UNHCR beiseite, das ausdrücklich eine deutliche Verschlechterung der Lage festgestellt hat und sein Erstaunen darüber ausdrückt, dass trotzdem weniger Afghanen als bisher in Deutschland anerkannt werden. Dem Bericht zufolge ist die Zahl der zivilen Opfer gestiegen, bewaffnete Konflikte und interne Vertreibung (530 000 Menschen wurden innerhalb des Landes in die Flucht getrieben, 80 000 mehr als im Vorjahr) sind auf einem Rekordniveau, die oft als Beleg für das sichere Afghanistan angeführte Rückkehr von Flüchtlingen aus Pakistan wurde – immer noch dem UNHCR folgend – durch Druck von offizieller Seite in Pakistan, durch Drohungen und Erpressung begünstigt.
Schleswig-Holstein hat angesichts dieser enormen Zweifel an der Sicherheit Afghanistans einen Abschiebestopp verhängt. Wir können das als Land nur für drei Monate. Es ist vielleicht ein Tropfen auf dem heißen Stein aber ich finde es richtig, Menschen nicht nach Afghanistan abzuschieben.
Ich weiß, dass löst das große moralische Dilemma des Afghanistan-Krieges noch nicht. Aber es ist wenigstens eine Grenze, die wie nicht überschreiten´sollten.