Es ist ungefähr ein Jahr her, dass ich das letzte Mal bei einer Tafel war. Die Leute, die sie betrieben, banden mir eine Schürze um, gaben mir ein paar Gummihandschuhe, und ich stand hinter dem Tresen und steckte etwas welken Broccoli und Tiefkühlpizzen in hingereichte Beutel. Die Menschen schauten nicht auf, als sie mir ihre Taschen reichten. Ich denke, sie schämten sich ihrer Armut. Und wenn jemand hochschaute und mich erkannte, war es noch schlimmer. Sie wollen nicht reden. Sie wollten nur schnell wieder weg. Die Armut hatte ihre Haltung verändert: Sie gingen nicht nur wegen ihres Alters gebückt, sondern auch so buchstäblich am Stock. Die Armut hatte ihnen Würde genommen.
Die Helferinnen und Helfer, mit denen ich das Essen austeilte, wiederum waren durchdrungen von Energie und Tatkraft. Sie sprachen die Kunden unverdrossen an und versuchten sie in ein Gespräch zu ziehen, sie trugen die Kisten aus den Lieferwagen, sie führten Buch über die Wareneingänge und Ausgänge und waren fröhlich, obwohl die Nachfrage das Angebot überstieg. 250 Leute waren auf der Warteliste und konnten nicht an der Essensausgabe teilnehmen. Die Bedürftigen wurden auf Tage aufgeteilt, sie selbst arbeiteten in Schichten. Alles ehrenamtlich. Und das teilweise seit Jahren und Jahrzehnten. Nach der Arbeit kamen sie zur Tafel. Und sie waren stolz darauf, dass sie als Verein existierten und nicht als staatliche Institution. Staatliche Armenspeisungen wollten sie nicht. Sie sahen sich eher als Supermarkt denn als Suppenküche. Aber sie suchten ein größeres Ladenlokal, ob ich da nicht helfen könne. Und der Transporter sei auch alt und die Spenden würden nicht reichen. Ob es nicht ein Förderprogramm geben, damit sie einen gebrauchten Sprinter kaufen könnten.
Ich kenn die Leute in der Essener Tafel nicht. Die Tafel, die ich besucht habe, war in einer Norddeutschen Kleinstadt. Die Entscheidung, die Tafel für Flüchtlinge zu schliessen und zwischen deutscher und ausländischer Armut zu unterscheiden, finde ich falsch und diskriminierend. Sie ist ein Alarmsignal. Vor allem, weil andere Tafeln mit den Herausforderungen anders umgehen. Geflüchtete arbeiten sogar bei ihnen. Und wenn es so ist, dass vor allem Frauen sich in der Schlange mit männlichen Flüchtlingen unwohl führen, dann hätte man vielleicht lieber Frauenöffnungsstunden einrichten sollen, wie in der Sauna, wie im Schwimmbad.
Aber der politische Punkt ist ein anderer: Wir dürfen nicht die Schwachen gegen die Schwachen ausspielen. Wir haben Flüchtlinge in Deutschland. Wenn ihre Asylverfahren laufen und sie Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, dann kriegen sie weniger als Hartz IV. Und wir haben Armut in Deutschland. Annalena Baerbock hat bei ihrer Bewerbungsrede zur Bundesvorsitzenden gesagt, dass diese Armut oft unsichtbar ist. Weil Kinder, die arm sind, nicht zu Kindergeburtstagen gehen, weil sich ihre Eltern kein Geschenk leisten können. In einem gewissen Sinn macht die Tafel das Unsichtbare sichtbar: das Elend.
Es sind aber nicht nur Kindergeburtstage, die von Armen gemieden werden. Es sind auch Sozialämter, Wohngeldstellen oder Behörden allgemein. Zu viele Menschen nehmen oft genug noch nicht mal ihre Rechte wahr, wie zum Beispiel die Kinderzulage. Das ist die Folge einer Politik, die die Würde eines Lebens abhängig gemacht hat von dem Erfolg im Berufsleben. Wir alle kennen doch fleißige, tüchtige, soziale Menschen, die nicht in Festanstellung arbeiten und von denen wir jetzt schon wissen, dass sie von Altersarmut bedroht sein werden. Und Menschen, die jeden verfluchten Tag früh zu Arbeit gehen und arm sind – nicht trotz Arbeit, sondern wegen ihr. Und diese Situation verschärft sich.
In dem Maße, in dem die Arbeitswelt globaler und digitaler wird, verlieren Menschen zunehmend die Hoheit über ihr Leben. Eine Politik, die aber den Wert des Lebens allein vom Erfolg in der Arbeitswelt ableitet, läuft entsprechend immer mehr an der Realität vorbei. Die Politik des ‚Förderns und Forderns‘ mag zu ihrer Zeit ein Recht gehabt haben, aber die Zeit ist über Hartz IV hinweggegangen. Wir brauchen ein Sozialsystem, das – bei allen Willfährigkeiten des Lebens – Würde und Anerkennung garantiert. Es braucht eine Garantiezusage, die Menschen Sicherheit gibt, mindestens in besonders sensiblen Lebenslagen. Wenigstens in den Zeiten, in denen man nicht in Konkurrenz zur Erwerbsarbeit steht. Im Alter, während der Ausbildung oder der Kinderzeit sollte das Sozialsystem wieder zu einem Solidarsystem werden. Die fürs Leben existenziellen Bedarfe sollten als Garantieleistung direkt ausgezahlt werden – wie das Kindergeld als negative Einkommenssteuer. Und damit nicht der Reiche noch mehr bekommt, werden sie als Einkommen eingerechnet und versteuert. So wird die Existenz ohne Nachweis der Bedürftigkeit gesichert
Menschen sollten nicht mehr betteln müssen. Nicht mehr in erster Linie als Marktteilnehmer gesehen und politisch eingepreist werden, sondern als Individuen, denen ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe zusteht – vom Kindergeburtstag bis zur Seniorenfahrt. Und in dem Essen eine Selbstverständlichkeit ist, kein Almosen.