Der dänische Schriftsteller Carsten Jensen schreibt in seinem Roman „Wir Ertrunkenen“: „Der Seemann besuchte die Fremde. Er umarmte sie vielleicht nicht, aber stets nahm er von dort etwas mit nach Hause. Vor allem brachte er das Wissen mit, dass man Dinge auf mehr als nur eine Art und Weise tun konnte. Ein Seemann hatte nicht nur die tägliche Aussicht auf einen weiten Horizont. Er wusste auch, dass es auf der anderen Seite des Horizonts noch etwas gibt und dass es nicht notwendigerweise dasselbe sein muss wie hier.“
Grundsätzlich gilt, dass freier Handel Volkswirtschaften und Gesellschaften näher zusammenbringt, zu einer vernetzten Welt beiträgt und vielen Menschen Wohlstand bringen kann. Nicht zuletzt deshalb ist ein Europa der offenen Grenzen so wichtig. Wirtschaftlicher Austausch, Reisen, kulturelles Lernen ist meist die Bedingung dafür, dass Menschen sich nicht ermorden oder bekriegen. Aber die Globalisierung sorgt auch dafür, dass viele kulturelle Eigenheiten verloren gehen, sich Ess- und Kleidungsgewohnheiten angleichen, also alle Jeans tragen und Coffee-to-go trinken. Deshalb muss die Balance gefunden werden zwischen der prinzipiellen Offenheit für Internationales und dem Schutz und Eigenwert kultureller Eigenheiten, lokaler Besonderheiten und kleinerer Regelkreise. Nur durch sie wird Globalisierung erträglich. Menschen brauchen Heimat, nicht nur Hotels. Wir wollen Identitäten und Orte, nicht nur Durchreisen. In den letzten Jahren hat sich diese Diskussion anhand des Transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP zugespitzt.
Die Befürworter von TTIP argumentieren häufig, dass es Antiamerikanismus sei, der die Gegner auf die Straße treibe und der Protest die gemeinsame westliche Wertebasis in Frage stelle. Nun, es ist genau andersherum. Denn das global wichtigere Abkommen haben die USA mit den pazifischen Staaten wie Vietnam, Malaysia oder Singapur längst verhandelt. Dieses Transpazifische Freihandelsabkommen (TPP) soll amerikanische Investitionen im asiatischen Raum sichern. Freihandelsabkommen symbolisieren eben nicht grundsätzlich die europäisch-amerikanische Wertegemeinschaft. Eher ist es umgekehrt. TTIP ist gerade kein Symbol für Demokratie, Freiheit und Mitbestimmung, sondern geradezu das Gegenteil. Es steht für den Verlust transatlantischer Werte. Das wird übrigens auch in den USA so gesehen, wo es ebenfalls große Widerstände gegen TPP und TTIP gibt – ebenfalls von liberaler wie rechter Seite. Die amerikanische Unabhängigkeit begann mit der Boston-Tea-Party und dem Schlachtruf: „No taxation without representation“. Jetzt droht mit TTIP sogar eine „legislation without representation“. Die Souveränität von Parlamenten würde bei zukünftigen Gesetzgebungen eingeschränkt, über „Schiedsgerichte“ könnten rechtsstaatliche Beschlüsse beklagt werden. Bereiche, in denen uns unsere bisherigen Regeln wichtiger sind als der Welthandel, würden der hoheitlichen Kontrolle entzogen, darunter etwa die Energieversorgung, der Transportsektor, sogar Bildung oder die Trinkwasserversorgung.
Gerade das transatlantische Werteargument spricht eher gegen TTIP. In einer Demokratie ist nicht der Konsument, sondern der Bürger der Souverän. Und der demokratische Staat hat seine Bedeutung darin, dass er regelgeleitete Entscheidungen herbeiführt, die wir als Konsumenten mit all unseren Widersprüchen alleine vielleicht nie treffen würden, in denen wir jedoch einen allgemeineren Sinn sehen.
Für Global Player sind Regulierungen und Umwelt- oder Sozialstandards immer nur „Handelshemmnisse“. Und das sind sie ja auch. Nur sind sie eben wohlbegründete und demokratische Errungenschaften: Arbeitnehmerrechte, Mindeststandards des Verbraucher- und Umweltschutzes, sie alle wurden einmal von zivilgesellschaftlichen Bewegungen den Profitinteressen abgetrotzt. Sie alle drohen unter dem Primat des Freihandels als Störung einer wirtschaftlichen Entwicklung umdeklariert zu werden. Die Auseinandersetzung um TTIP ist in Wahrheit eine Auseinandersetzung um die Frage, ob wir einen Primat der Politik, wie löchrig er auch schon in der Vergangenheit geworden ist, grundsätzlich verteidigen wollen.
(Dieser Text ist meinem Buch „Wer wagt, beginnt“ entnommen.)