„Du kommst aus dem Flughafen und nach 10 Minuten weißt Du, ob Du es liebst oder hasst“ – mit diesem Spruch eines Bekannten reiste ich am ersten Tag der Herbstferien mit einer Energiewirtschaftsdelegation aus Schleswig-Holstein nach Indien. Fünf Tagen Gespräche rund um Energie- und Umweltthemen, mit Regierungen auf allen Ebenen, den Windforschungsinstituten, der Branche, den Messeaustellern, den Konsulaten, Professoren, gemeinsame Erklärungen, und gemeinsamen Projekte. Ich bin jetzt seit 72 Stunden in Indien. Und ich kriege es noch immer nicht auf den Zeiger. Und das liegt nicht nur daran, dass alles in diesem Land so unfassbar groß ist, die Perspektiven, die Probleme, das Wachstum, der Energiehunger, die Ausbaupläne für die Erneuerbaren, die Armut, die Verschmutzung. Und da kann man ein so selbstbewusster Politiker sein, wie man will, wer sich hier nicht klein fühlt, hat nichts verstanden. Aber es ist nicht eine Frage der Größe allein. Dieses Land ist so widersprüchlich.
Ein wahnsinniger Verkehr, bei dem trotzdem jeder auf jede achtet. Wenn ein Mofa-Fahrer mit der Hand nur leicht winkt, schert selbst das Polizeiauto hinter ihm aus. Schlafende Bettler und Babys auf der Straße und bombastische Protzbauten, Hotels wie goldene Käfige, alte Frauen, die 20l-Eimer zur Rabattenbewässerung schleppten, während junge Hotelbedienstete daneben standen und sich das gleichgültig ansahen. Stinkende Flüsse und Kanäle, faktisch offene Kloaken, und renaturierte ehemalige Müllhalden, Naturschutzgebiete mitten in der Stadt. Das reichhaltigste und leckerste Angebote an vegetarischem Essen und Hühner, die in engsten Käfigen auf dem Wochenmarkt auf ihren baldigen Tod warten. Eine formlose Menschlichkeit auch bei höchsten Regierungsbeamten und eine förmliche Höflichkeit, bei der man sich mit gefalteten Händen voreinander verbeugt. Ich hatte eine ständige Begleitung durch Polizisten und Leibwächter und selbst zwei Soldaten mit altmodischen MGs standen Tag und Nacht vor meiner Hoteltür . Erst war ich peinlich berührt von der ewigen Bewachung und dann genervt, das ich keinen Schritt allein tun konnte. Selbst zur Toilette kam mein Bodyguard mit, erst recht, wenn ich morgens nochmal fix durch das Chaos der Gassen schlendern wollte. Dann dreht sich das um und ich war berührt von ihrem Stoz, für einen ausländischen Gast sein zu dürfen. Es war Gastfreundschaft und nicht Sicherheitsstaat. Erst freute ich mich, dass hier auch höchste Regierungsvertreter schlipslos durch ihre Behörden liefen, dann tüdelte ich mir selbst einen Schlips um, als ich auf dem Empfang des Generalkonsulats eine Rede halten musste.
Vielleicht ist Indien verweigerte Gewissheit. Und es fällt mir deshalb so schwer, mich drauf einzulassen. Ich versuche die ganze Zeit aus den Widersprüchen etwas Politisches zu machen. Aber sie sind in sich selbst so widersprüchlich, dass das nicht funktioniert.
Auf dem Empfang der Deutschen Botschaft trat eine junge Rapperin auf, Sofia Ashraf. In die, sagen wir vorsichtig, gediegenen Reihen der geladenen Gäste, schleuderte sie ihre wütenden Texte über Umweltzerstörung, Großkapital und ihren Traum von einem anderen Indien.
“Unilever came and left devastation As they exposed the land to contamination. So Here’s the story They set up a thermometer factory Where workers handled toxic mercury
They dumped their waste in the local shrubbery Now that’s some toxic shit.”
Sofia Ashraf ist vielleicht kein Star, aber eine Berühmtheit. Nach ihrem Auftritt wurde sie umringt von Fans – es waren alles Frauen. Gestanden Gattinnen von Ärzten, Fabrikbesitzern und Diplomaten umringten eine kleine, zierliche, junge Frau und verehrten Sie. Mich riss Sofia auch mit. Nicht nur, weil der Genralkonsul von Chennai, Achim Fabig und seine Frau, die Sofia eingeladen hatte, listig einen weihevollen Festabend zu einem des politischen Protests gewandet hatten, sondern weil ich in Sofias Rap Orientierung fand. Endlich wieder klare Kante. Endlich wieder böse (Unilever) und gut (Sofia).
Manchmal ist Politik abgedreht und jeder Gedanke wird so lange gegens Licht gehalten, bis er fadenscheinig wird. Manchmal aber kann Politik einem auch den Kopf waschen. Manchmal führt verweigerte Gewissheit zur Politik. Weil es von uns abhängt, was wir aus dieser Welt machen.
“Kodaikanal won’t step down until you make amends now.”