Gut drei Tage hatte ich die Gelegenheit, Israel zu bereisen. Zwei Tage war ich in den palästinensischen Gebieten. Ich habe führende Politiker getroffen sowie extrem kluge und nachdenkliche Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft. Die Begegnungen, Bilder und Gespräche, haben einen tiefen Eindruck hinterlassen. Es waren oft die kleinen Dinge, an denen sich das Große festmacht.
I. Jüdisches Leben bleibt bedroht
Vielleicht fange ich bei dem Besuch in Yad Vashem an. Erinnerung braucht einen Raum, sonst erlischt sie. Das Unsagbare braucht eine Sprache, sonst wird es verschwiegen. Die Vergangenheit braucht eine Zukunft, sonst erdrückt sie einen. Auf all das antwortet Yad Vashem, „Denkmal und Name“.
In Yad Vashem sah ich viele junge Soldatinnen und Soldaten, die wohl gerade ihren Wehrdienst absolvieren. Und ich sah plötzlich im Bild, was ich so oft gelesen habe: dass die Erfahrung der Shoah und die Verteidigung des Staates Israel eines ist – und nicht getrennt werden kann. Antisemitismus hat einmal fast zur Auslöschung der Jüdinnen und Juden geführt – Auslöschung, ein Wort, das einem im Zusammenhang mit Menschen nie über die Lippen kommen dürfte, und das es doch tut, weil genau dieses Ziel des nationalsozialistischen Deutschlands, unserer Vorfahren war. Das Bedrückende, Beängstigende ist: Es kann wieder passieren. Die Geschichte Israels zeigt, dass die Bedrohung jüdischen Lebens, die Bedrohung der Existenz Israels, immer da ist; der Sechs-Tage-Krieg, der Yom-Kippur-Krieg. Deshalb müssen wir die iranischen Drohungen ernst nehmen. Bei der Frage der nuklearen Bewaffnung, bei der Aufrüstung der Hisbollah im Libanon.
Ich sehe die Soldatinnen und Soldaten auch auf ihrem Heimweg mit ihren Gewehren auf der Straße. In Deutschland kennen wir das nicht. Die Mehrzahl der Israelis hat ihren Militärdienst geleistet. Ich nicht. Ich habe ihn verweigert und mit Menschen mit Behinderungen gearbeitet. Heute hat Deutschland keine Wehrpflicht mehr. Ich weiß aus den Gesprächen mit israelischen Politikerinnen und Politikern, dass Israel eine pragmatische Außen- und Sicherheitspolitik betreibt.
Ein hochrangiger Regierungsvertreter sagte, wenn etwas getan werden müsse, wenn ein Angriff den Frieden sichere, dann müsse er getan werden. Für Deutschland ist diese Haltung unmöglich. Nach zwei fürchterlichen, verheerenden Kriegen, die Deutschland begonnen hat, ist es ein zivilisatorischer Fortschritt, dass es nun immer und zuallererst diplomatische, multilaterale Lösungen sucht. Wir haben das gemeinsame Interesse eines freien und sicheren Israels. Einer freien und sicheren Welt. Aber wir haben eine unterschiedliche Geschichte. Oder genauer: Wir haben die gleiche Geschichte unterschiedlich erlebt. Als Opfer und als Täterinnen und Täter. Und wir haben – zu Recht – ganz gegensätzliche Konsequenzen daraus gezogen. Die Frage ist, wie Deutschland und Israel aus dieser Unterschiedlichkeit eine gemeinsame politische Perspektive schaffen können.
II. Nahost-Konflikt: Leben umgeben von Feindschaft
Wir haben nicht nur eine unterschiedliche Geschichte, wir haben auch eine unterschiedliche Gegenwart. Auf dem Weg nach Hebron roch es in einem Ort nach Tränengas. Niemand hat sich darum gekümmert. Normalität bei Demonstrationen. In Sderot, wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt, habe ich ein Trauma-Zentrum besucht und viel über einen Alltag unter ständigem Beschuss erfahren. Über die Traumata und wie die Bewohnerinnen und Bewohner sie überwinden können. Das ist das Besondere: dass sie überwunden werden können. Und dass und wie sie nicht in Ideologie, Hass und Gegengewalt umschlagen.
Es ist ein Fehler, dass in Gaza diese Trauma-Arbeit eingestellt wurde. Krieg beruht auch auf einem Kreislauf von Traumata. Wenn man ihn beenden will, muss man den Menschen helfen und den Kreislauf durchbrechen. Damit die Kinder, die ihre Väter verloren haben, nicht zu Täterinnen und Tätern der Zukunft werden. Ich habe das verstanden, als ich eines der kleinsten Säugetiere, die ich kenne, auf der Hand hatte: einen sibirischen Hamster. Fingergroß. Mit ihm arbeitet die Israel-Trauma-Coalition in Sderot. Kinder und oft auch Erwachsene, die sich sonst ins Schweigen der Angst zurückziehen, sprechen mit diesen Tieren plötzlich, spielen und streicheln sie. Und so löst sich mancher seelische Knoten. Es wird wieder geschlafen, wieder gelacht.
Deutschland liegt mitten in Europa, umgeben von Alliierten und Nato-Partnern. Wir hatten 70 Jahre lang Frieden in Mitteleuropa. Wir nehmen ihn zu selbstverständlich hin und vergessen, wie hart Politikerinnen und Politiker in Europa dafür gearbeitet haben und was sie eingesetzt haben.
In Israel ist Frieden für niemand selbstverständlich, für keine Seite. Das Jordan-Tal zu annektieren, heizt die Konflikte nur an. Es gefährdet Zukunft, die Perspektive auf einen gerechten Frieden und nimmt Hoffnung. Durch den massiven Siedlungsbau wird der Raum für die Nachbarn Israels immer enger.
Das Beduiendorf Khan al-Amar ist ein konkretes Beispiel: Die Menschen dort leben in großer Armut. Wenn internationale Hilfe ihnen Solarpanelen zur Stromerzeugung bereitstellt, werden diese von der Armee demontiert. Wenn sie Toiletten bekommen, werden diese von der Armee konfisziert. Die Frustration ist groß. Und nie ist etwas Gutes aus Frustration entstanden. Wir alle haben ein Verlangen nach Würde und Respekt. Und viele Menschen auf der anderen Seite wollen eine Lösung – egal was für eine. Dazu muss man reden. Miteinander. Nicht aufeinander schießen.
III. Über die Zerbrechlichkeit der Demokratie
Es gibt aber bei allen Unterschieden zwischen Israel und Deutschland eine große Gemeinsamkeit: Wir leben in einer liberalen Demokratie. Der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes heißt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Er ist direkt aus der Erfahrung des Verbrechens der Shoah heraus entstanden. Dieses Wissen um die Geschichte, die Größe und die Notwendigkeit dieses einen Satzes, von dem alles ausgeht, geht aber mit Abstand zum Zweiten Weltkrieg immer mehr verloren. Und damit auch das Wissen über die Angreifbarkeit und Zerbrechlichkeit der Demokratie.
Demokratie aber bedeutet mindestens dreierlei: Erstens, niemand steht über dem Gesetz, kein Ministerpräsident, keine Partei. Zweitens, es gibt eine politische Gewaltenteilung. Die Justiz ist unabhängig. Die Presse auch. Presse darf nicht gekauft und Justiz nicht eingeschüchtert werden. Drittens, Demokratie bedeutet Wechsel. Die politische Macht muss ab und an verloren gehen, damit neue entsteht. Das ist kein Beinbruch, das ist der Sinn von Wahlen. Und: Demokratie braucht öffentliche Räume und eine starke Zivilgesellschaft. Unabhängige Wissenschaft. Kritische Nichtregierungsorganisationen. Meinungsfreiheit. Freiheit der Kunst.
Weltweit geraten diese Werte immer stärker unter Druck. Auch in Deutschland. Autoritarismus und Nationalismus erstarken. In Deutschland gibt es verstärkten Antisemitismus, Rechtsextremismus, Mordanschläge auf Politikerinnen und Politiker, Anschläge auf Synagogen. Diejenigen, die Geschichte nicht nur als Vergangenheit begreifen, sondern als Auftrag, müssen sich jetzt politisch einmischen. In Israel gibt es zum dritten Mal Neuwahlen. Vielleicht gibt es Neuwahlen in den palästinensischen Gebieten. Auch dort steht eine liberale Öffentlichkeit übrigens unter starkem Druck. Auch in Deutschland gibt es permanent Diskussionen über Neuwahlen.
Und wenn wir gewählt haben, wird Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin von Deutschland sein, weil sie nicht mehr antritt. Damit geht in Deutschland eine politische Ära zu Ende. Das kann man für Israel so sicher nicht sagen. Wenn Israel wählt, kann es sein, dass es erneut die gleiche Situation bekommt wie heute. In Deutschland sind das politische System und die Parteieinbindung sehr volatil. In Israel ist es sehr fixiert. Erneut ist es so, dass wir Ähnliches erleben, aber mit unterschiedlichen Vorzeichen. Aber wir müssen das Gemeinsame sehen und stark machen – in Israel, in den palästinensischen Gebieten, in Europa und Deutschland. Und das ist der Einsatz und Kampf für die Demokratie und eine gerechte Zukunft.
IV. Die Klimakrise kennt keine Grenzen
Zwischen dem Dorf Yata und Ad-Dirat im Westjordanland ist eine Müllkippe. Kinder wie Erwachsene durchsuchen dort den Abfall Israels, der hierhin gekippt wird, weil es billiger ist, als ihn in Israel zu entsorgen. Dass die Armut in den palästinensischen Gebieten Kinder auf die Müllkippe zwingt, ist schlimm. Aber das Problem ist größer. Denn gemeinsam leben wir in einer Zeit, in der Umweltschutz und Klimaschutz nicht mehr als politische Fußnote abgetan werden kann. Die Frage von Zugang zu Wasser wird immer dringlicher, weil es immer weniger regnen wird. Die globale Klimakrise kennt keine Grenzen, so wenig wie ein CO2-Molekül. Sie droht zur größten Bedrohung der Menschheit zu werden – einer gemeinsamen Bedrohung.
Ja, es gibt Fragen, die betreffen Juden, Muslime, Christen und Atheisten in gleicher Weise. Israelis, Palästinenser, Deutsche. Wir müssen uns von der Verbrennung von fossilen Energien verabschieden. Von der Kohle für die Stromerzeugung. Vom Benzin für den Verkehr. Ja, wir müssen Verkehr anders und klüger organisieren. Wir müssen aufhören, über Müll zu reden, den wir wegwerfen, sondern darin Rohstoffe erkennen, die wir gebrauchen können.
Auf dem Flug hierher las ich in der Zeitung von einem Tel Aviver Startup-Unternehmen, das einen Kunststoff entwickelt hat, der kompostierbar ist und wieder in seine Rohstoffe zerfällt. Ich weiß von den enormen Fortschritten im Bereich der Künstlichen Intelligenz, die hier an dieser Küste erreicht worden sind. Und wenn man die Produktion von Erneuerbaren Energien, Solar, Wind, Geothermie und den Verbrauch von Energie digital verzahnt, kann man die Summe an benötigter Energie drastisch reduzieren und ein Energiesystem bauen, in dem Solarenergie und Windenergie nicht mikroskopische Ergänzungen sind, sondern das neue Rückgrat bilden.
Israel überlegt, eine Gasleitung nach Europa zu bauen. Die Zukunft aber sind solare Kraftwerke, solarer Wasserstoff, Windenergie auch auf dem Mittelmeer. Eine erneuerbare Energieversorgung könnte auch eine neue Form von Gemeinsamkeit schaffen, vielleicht Frieden befördern, könnte die arabischen Staaten, Israel und Europa noch einmal neu zusammenbringen.
Im Konkreten, dass Städten wie Ramallah vielleicht nicht mehr der Strom abgestellt werden muss oder dass Wasser auch über große Strecken gepumpt werden kann. Im Allgemeinen, weil eine Welt im Kampf um fossile Energien konfliktreicher ist, als eine, die auf Sonnen- und Windenergie aufbaut. Vielleicht ist dieses Bild, dass das Neue nicht nur eine Ergänzung des Alten ist, sondern das Fundament für die Zukunft, eine Metapher für unsere Zeit insgesamt.
Israel und die palästinensischen Gebiete: Die andere Seite
In Sderot hat der Leiter der Trauma-Koalition vom Gaza-Streifen stets von „der anderen Seite“ gesprochen, nicht von „den Palästinensern“, „der Hamas“, „dem Feind“. Er tat es aus Respekt. Er wollte sich zwingen, auch „die andere Seite“ zu sehen. Das ist ein gutes Motto. Ich habe hier viele andere Seiten gesehen und hoffe so sehr, dass eines Tages die anderen Seiten nicht als Bedrohung, sondern als Auftrag, vielleicht als Chance erlebt werden.
Ich möchte noch einmal nach Yad Vashem zurück. Am stärksten beindruckte mich der Brief eines SS-Offiziers von der Front nach Hause. Er schrieb seinen Kindern und seiner Frau, wie schwer es ihm falle, Juden umzubringen. Kinder, Frauen, Alte. Aber dass man sich durch Wiederholung daran gewöhnen könne und man sich Mitleid abtrainieren könne. Und dann wünschte er ihnen liebe und frohe Weihnachten.
Dieser Brief steht für das Gegenteil dessen, was notwendig ist. Nämlich darauf zu bestehen, dass der einzelne Mensch einen Wert hat und einen Anspruch auf Freiheit. Jeder Einzelne. Und dass wir die Wahl haben, dafür zu arbeiten. Das ist das, was ich mitnehme. Die israelisch-deutsche Vergangenheit ist ein Auftrag in die Zukunft. Und ich hoffe, dass wir ihn nutzen, dass wir eine Wirklichkeit schaffen, aus der Gutes entstehen kann.