3. und 4. Tag Sommerreise Auf der Fahrt nach Rheinland-Pfalz fahre ich durch glühende Landschaften. Die Felder Brandenburgs sind ausgetrocknet, der Weizen, der Mais nur halb so hoch wie sonst. Zu Hause in Schleswig-Holstein werden die Kühe vorzeitig geschlachtet, weil das Futter nicht mehr reicht. In Rheinland-Pfalz, als wir im Auto von Neustadt sitzen, hoch zum Hambacher Schloss, erzählt mir die Fahrerin, dass die Winzer inzwischen zunehmend rote Trauben anbauen statt Riesling, weil es für den Riesling zu warm wird. Die Vorboten der Klimakrise sind da, denke ich in der Mittagshitze des Donnerstags.
Freies Schloss für freie Bürger
Das Hambacher Schloss – der Ort, an dem die AfD jetzt dauernd ihre Feste feiert. Aber die Hambacher wehren sich. Ein paar Damen tragen bunten Buttons auf denen steht, „Freies Schloss für freie Bürger.“ Oben auf dem Turm weht neben der Deutschlandflagge die Europafahne. Auf einem Banner an einer niedrigen Mauer, sieht man schwarze, scherenschnittartige Figuren in Gehröcken und langen Kleidern, die Fahnen und Hüte schwenkend den Berg zum Schloss hinaufgehen. Daneben ein Zitat von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier. „Die Menschen auf dem Hambacher Fest demonstrierten für die nationale Einheit Deutschlands. Aber sie waren keine Nationalisten, die sich gegen andere Nationen stellten. Im Gegenteil: Sie forderten ein konföderiertes republikanisches Europa mit Presse, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und Gleichberechtigung für Frauen.“
Im Gespräch mit dem Autor Thomas Wagner ging es genau um dieses Zitat. Was sagt es eigentlich aus? Wagner sagte, ihn interessierten keine Werte – nur Rechte. Denn auf Werte könnten sich immer alle berufen – Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit – konkret und ernst werde es, wenn es um die Verwirklichung von Freiheitsrechten und Gleichheitsrechten ginge. Ich fühlte mich ertappt, rede ich doch dauernd von der Auseinandersetzung um Werte. Aber ich denke, da hat er einen Punkt.
Das ist nicht Kandel
Dann Kandel – ein kleiner, beschaulicher Fachwerkort in der Südpfalz, rund 9000 Einwohner, der in der Sommerhitze scheinbar schläft. Aber nur scheinbar: Kandel ist zum Brennglas der Auseinandersetzung dieser Republik geworden. Kurz nach Weihnachten wurde die 15-jährige Mia von ihrem Ex-Freund erstochen, ein junger Afghane. Eine Tat, die einem den Atem stocken lässt, Trauer herrscht im Ort, Wut, Schockstarre. Sofort werfen Rechtsextreme, Identitäre, AfDler ihre professionelle Propagandamaschine an. Sie strömen von auswärts nach Kandel, um aus dem Tod des Mädchens politisches Kapital zu schlagen. Sie marschieren auf und hetzen gegen Flüchtlinge, gegen jeden und jede, die sich dafür einsetzt, dass wir, bei allen Unterschieden, irgendwie miteinander auskommen. Diese Vereinnahmung ihres Ortes bringt die Kandler und Kandlerinnen auf. Sie tun sich zusammen, strickende Omas, Frauen, die bislang nichts mit Politik zu tun hatten, ältere Herren, junge Leute und halten den Rechten entgegen: Das ist nicht Kandel. Wir sind Kandel.
Und nun bin ich da. Ich wollte wissen: Was habt ihr für Erfahrungen gemacht, wie lebt ihr mit der Trauer um Mia, der Wut, wie geht ihr mit den Morddrohungen und der Angst davor um, was können wir von euch lernen, und wie können wir helfen? Es sollte ein Gespräch im kleinen Kreis werden, aber es kommen 60, viel zu groß, zum ernsthaft reden, denke ich im ersten Moment. Aber ich irre mich: Viele ergreifen das Wort. Eine Frau erzählt, wie beängstigend die rechten anonymen Drohungen waren, die sich plötzlich erhielt, wie systematisch die Polizei sie untersucht und dabei festgestellt hat, dass sie teils sogar aus dem Ausland kamen. Einer berichtet, wie alte Leute im Ort, die noch die Nazi-Zeit miterlebt haben, sagen: Gut, dass ihr was macht. Ein anderer Mann, der sich seit Jahren um die Integration von afghanischen Flüchtlingen kümmert, sagt: „Das, was hier passiert ist, hat etwas mit mir gemacht. Jetzt kümmere ich mich noch mehr um die jungen Afghanen, jetzt erst recht.“
Überhaupt, die Integration ist es, die sie umtreibt: schnellere Möglichkeiten für die Flüchtlinge, hier zu arbeiten, ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, so ihre Würde zu wahren und Teil zu werden. Und eine Frau, die mit Kindern aus ganz unterschiedlichen Herkunftsländern gearbeitet hat, sagt, ja, es sei schon schwieriger mit den muslimischen Familien, weil die Unterschiede größer seien. Aber sie sagt das nicht ausgrenzend, sondern im Willen, zusammenzuführen, und wissend, dass es Arbeit kostet, die lohnt.
Und dann gibt es zum Schluss in Kandel einen Moment, der mich noch mal besonders packt. Eine junge Frau nimmt das Mikro, mit fester Stimme voller Leidenschaft, sagt sie, sie mache sich ernsthaft Sorgen um die Demokratie, es würden nur Probleme aufgemacht, und keine Lösungswege. Und dann ruft sie aus: „Wir brauchen Herz und Eier. Und Hirn.“
Politik mit Horizont
Dieser Ausruf ist, was mir in diesen zwei Tagen, bei den Gesprächen – auch am Abend in Mainz, bei einer Diskussion mit Bürgerinnen und Bürgern unter dem Abendhimmel – so oft begegnet ist: Eine Sehnsucht genau danach – Herz, Eier, Hirn für unsere liberale Demokratie, für eine Politik, die Probleme löst und einen Horizont hat, eine Gesellschaft, in der Gemeinsinn etwas gilt.
Auf der Rückfahrt in den Norden spricht mich ein Mann an und fragt, ob ich Robert Habeck sei. Dann beginnt er mit einer Schimpftirade: Ihr seid schuld, dass das Land den Bach runtergeht, ihr seid Schuld an 17 Prozent AfD, ihr wollt alle Flüchtlinge nehmen. Unser Streit wird lauter und er fordert mich auf, den Wagen zu verlassen. Ich störe ihn. Ich vertiefe mich in meinen Laptop und lass ihn rumschimpfen. Er hört nicht auf und redet auf seine Sitznachbarin ein, motzt weiter über mich. Sehr leise, sehr höflich hält die junge Frau dagegen. Und die anderen Fahrgäste solidarisieren sich mit Blicken, nicken ihr still zu. Als der Mann geht, bedanke ich mich. Für Herz, Eier und Hirn. Danke dafür.