Hitze – in der Heldenstadt. So wurde Leipzig nach der friedlichen Revolution getauft. Hier kulminierte der Widerstand gegen das DDR-Regime. Und diejenigen, die damals buchstäblich Leib und Leben riskierten, führen mich zu den Orten von Friedensgebeten, Großdemonstrationen, Verhaftungen, der ehemaligen Stasi-Bezirksverwaltung, die heute als Museum dient und in der unzählige Akten der Revolution ‘89 beherbergt werden. Ich lerne vieles, aus den direkten Gesprächen. Etwa die enge Verwobenheit von konkreten sozialen Fragen mit dem Freiheitsbegehren. Die Häuser in Leipzig zerfielen buchstäblich. Aber die Leipziger Bautrupps fuhren jeden Morgen nach Ostberlin. Und nach jeden Ferien fehlten in den Schulklassen Kinder, weil die Familien geflohen waren, ausgereist über Ungarn.
Friedliche Revolution von 89: Sich nicht spalten lassen
Die, die blieben, wollten die Verhältnisse nicht mehr hinnehmen. Sie wehrten sich. Sie beharrten auf Friedfertigkeit, obwohl überall Stasi-Provokateure waren, und die Nationale Volksarmee hinter den Bauzäunen zum Einsatz bereit stand. In den Krankenhäusern lagerten extra Blutkonserven – im Juni erst hatte die chinesische Führung auf dem Platz des Himmlischen Friedens die protestierenden Studenten mit Panzern und Schüssen niedergewalzt. Aber am Ende übernahm niemand der DDR-Funktionäre die Verantwortung für einen Einsatzbefehl, es gab kein Massaker, stattdessen brach die DDR zusammen. Und die Demonstranten bestanden darauf, dass sie nicht nur „das Volk“, sondern „ein Volk“ waren. Es standen sich ja Söhne als Polizisten und Mütter und Geschwister als Demonstranten gegenüber. Flugblätter und Ansprache richteten sich auch immer an die anderen, dass man sich nicht spalten lassen solle.
Özil-Debatte als gesellschaftlicher Spiegel
In meine Gespräche in Leipzig platzten Anfragen zu Mesut Özils Rücktritt und die Debatte über Rassismus in den Stadien, im DFB. Dass diese Debatte so groß wurde, liegt sicher auch daran, dass sie die gesellschaftliche spiegelt. Wenn ein Integrations- und Sportminister sagt, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört und bald darauf ein muslimischer Nationalspieler seinen Rücktritt mit Rassismus begründet, dann muss man schon beide Augen zudrücken, um nicht zu sehen, dass es einen Zusammenhang gibt. Natürlich war das Foto mit Erdogan ein Fehler und Özil versucht sich per Angriff freizuspielen. Und ja, es ist nur Fußball. Aber die Reaktion einiger Politiker ausgerechnet von der SPD, die die Vorwürfe als Millionärsgejammer abtun, verkennt – und es ist erstaunlich und überraschend, dass gerade die SPD und der DFB das nicht wahrhaben wollen –, was gerade in Deutschland zu spüren ist – nämlich eine Entsolidarisierung.
Die Gesellschaft fällt in lauter Grüppchen und Individuen auseinander. Zu viele fühlen sich nicht verstanden, gesehen und anerkannt. Das gilt für Menschen, die in der DDR großgeworden sind und deren Leben und Schicksale von einer anderen Gesellschaft geprägt wurden. Die Wendezeit war für sie ein radikaler Umbruch. Auch wenn sie sich über Freiheit gefreut haben, so war es doch verstörend, auf einmal war alles infrage gestellt. Das gilt in gewisser Weise auch für Menschen, deren Familien aus anderen Ländern und aus anderen Kulturen zu uns gekommen sind. Sie haben bei aller Lust und Erwartung, Teil dieser Gesellschaft zu sein, auch ein Recht darauf, stolz auf ihre Geschichte zu sein und Anerkennung zu finden. Die Selbstverständlichkeit, mit der man erwartet, selbst gesehen zu werden, wird zum Hochmut, wenn man andere nicht sieht.
Wir werden nur gewinnen, wenn wir uns gegenseitig achten
Im Sport heißt es ja immer, man gewinnt zusammen, man verliert zusammen. Aber das stimmt nicht. Siegen kann man zwar nur gemeinsam, aber man verliert allein, nämlich dann, wenn alle nur an den eigenen Vorteil denken. Etwa ein Viertel der Deutschen hat Eltern, die keine Deutschen waren. Natürlich ist die Forderung nach Integration berechtigt. Aber man macht es sich zu einfach, nur immer lauter zu rufen, „die“ sollen sich besser integrieren, mehr anstrengen, sich faktisch assimilieren. Wir werden als Gesellschaft nur gewinnen, wenn wir uns gegenseitig achten und die Verschiedenheiten anerkennen.
Aus den Archiven auf die öffentlichen Plätze
In Leipzig traf ich auf sehr viel Stolz über die friedliche Revolution. Aber ich denke, Stolz auf die Vergangenheit reicht nicht mehr. Wir müssen daraus eine Leidenschaft für die Zukunft machen. Aus den Archiven auf die öffentlichen Plätze. Von der Geschichte zu einer neuen Geschichte. Von Leipzig lernen, heißt das Leben und die Lebensleistung in ihrer eigenen Tradition anzuerkennen. Und aus den verschiedenen Lebensläufen ein Bündnis der Vielen zu machen. Das war ja die Stärke der Friedlichen Revolution. Verschiedene Gruppen mit ihren unterschiedlichen Interessen einigten sich auf ein Ziel. Das war eine offene und moderne Form, eine politische Bewegung zu initiieren. Etwas in der Art bildet sich gerade heute neu aus – die Proteste in München, das Wortergreifen der Kulturschaffenden, die übervollen Veranstaltungen bei der Sommerreise, die politische Energie, die sagt, wir wollen uns nicht wehrlos die liberale Demokratie nehmen lassen.
Ich habe bei dem Besuch in Leipzig gelernt, dass kluge Politik sich bemüht, auch die andere Seite zu sehen. Das ist zwar keine Garantie aber die Voraussetzung für eine integrative Gesellschaft.