Die unübersichtliche und schwierige politische Lage nach der Bundestagswahl entspricht dem Lebensgefühl vieler Menschen. Irgendwie versucht man, seinen Alltag auf die Reihe zu kriegen. Aber man hat nicht unbedingt das Gefühl, dass Politik auf Augenhöhe der Gegenwart agiert, geschweige denn mit einem Bild von der Zukunft. Sie wirkt eher wie eine Getriebene. Die einen resignieren, die anderen protestieren. Und beides ist falsch. Beides höhlt das Gemeinwesen aus. Der großen Dynamik der Veränderung in fast allen Lebensbereichen steht die parteitaktische Lagerfixierung gegenüber – das Parteiengefüge spiegelt aber offenbar nicht mehr die gesellschaftliche Lage wider. Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen und der womöglich gar nicht mehr so großen Koalition macht sich politische Ratlosigkeit breit. Diese politische Lethargie zu knacken und die großen politischen Aufgaben anzugehen, das ist unsere Aufgabe!
Radikaler ist das neue Realistischer
Wir sind von der Straße gekommen, haben Verkrustungen aufgebrochen und mit unseren Ideen die Politik und das Land geprägt. Wir haben Veränderungen angestoßen und verantwortet und dieses Land zu einem anderen gemacht. Und gerade deshalb müssen wir jetzt einen Schritt weiter gehen. 2018 ist nicht 1980. Und es wäre fatal, wenn wir uns auf den Erfolgen und Teilerfolgen der Vergangenheit ausruhen. Sie müssen Ansporn für mehr sein.
Die Grünen wurden aus dem Geist des Zweifels heraus gegründet. In Zeiten von Klimaleugnern und Autoritären, von erstarkendem Nationalismus und Isolationismus, neuen Kriegen, Millionen von Geflüchteten weltweit, dürfen wir uns nicht einigeln in unseren alten Gewissheiten, Beschlüssen, Gremien. Unsere Aufgabe ist gesellschaftlicher Natur. Parteien – unsere eingeschlossen – sind Mittel zum Zweck. Es geht darum, die Wirklichkeit besser zu machen. Ja, an Inhalten und programmatischer Quirligkeit macht uns so schnell keiner was vor. Der Punkt ist ein anderer: Sozial wie kulturell fühlen sich viele Menschen abgehängt und zurückgesetzt. Der Grund liegt einerseits in dem globalen Kapitalismus und der neuen Epoche exponentieller Digitalisierung, die Arbeit, wie wir sie kannten, radikal verändert und für viele Menschen keinen Platz mehr lässt. Er liegt aber auch darin, dass die von uns zu recht erkämpften kulturellen Freiheiten andere verunsichern, dass sie als exklusiv empfunden werden, als ein Projekt nicht für alle, sondern nur für wenige Gleichgesinnte. Das müssen wir verstehen und dem begegnen, wenn wir weitere Veränderungen wollen.
Versuchen zu verstehen bedeutet nicht, für alles Verständnis zu haben. Und erst recht nicht, sich allem zu beugen. Im Gegenteil. Es ist der Weg zu einer neuen, ökologischen linksliberalen Politik, die für Gemeinsinn streitet und so mehrheitsfähig werden kann.
Im Ökologischen, im Sozialen, bei Europa müssen wir dafür eher noch radikaler werden, weil die Zukunftsfragen so radikal sind. Und vielleicht ist genau das die Antwort: radikaler ist das neue Realistischer.
Es gilt, eine soziale Sicherung als Garantiesystem zu entwerfen, das in Zeiten von Digitalisierung und dem Entstehen eines neuen Dienstleistungspräkariats Würde, Selbstbewusstsein und Sicherheit ermöglicht. Es gilt, im Steuersystem die externen Kosten abzubilden und die Arbeit von Kosten zu entlasten, das Leben mit Kindern nicht zur Armutsfalle werden zu lassen, öffentliche Institutionen als Garanten der Freiheit zu denken, die Grenzen des Wachstums in der Landwirtschaft durchzudeklinieren, die Außenpolitik grün als Energieaußenpoltik durch zu deklinieren, die Erneuerbaren günstiger und die fossilen Energien teurer zu machen. Wirtschaft nachhaltig zu bemessen. Wir müssen vor allem alles aus europäischer Sicht tun und denken und dafür die Geschichte eines politisch geeinten Europas weiter erzählen – von einem Europa, das für Fairness und Armutsbekämpfung steht..
Wir brauchen eine kritische Antwort der Moderne auf sich selbst, eine neue Gründung des gesellschaftlichen Ausgleichs. Wandel und Sicherheit, Freiheit und Halt – wir müssen beides zusammenbringen. So schaffen wir eigene, neue Mehrheiten.
Für eine optimistische, respektvolle, ehrgeizige Politik
Heute sind wir in so vielen Themen gesellschaftlich mehrheitsfähig, dass auch wir eine größere Verantwortung haben. Gerade mit Blick auf die konfuse Situation Deutschlands, der Müdigkeit der Union, der Schwäche der SPD, dem Populismus der FDP, dem Nationalismus der Linken, wird es auf uns ankommen, politische Mehrheiten zu organisieren. Wir müssen aus der grünen Eigenständigkeit eine grüne Gestaltungsoption entwickeln. Es reicht nicht, nur im eigenen Milieu Applaus zu bekommen. Dafür sind die gesellschaftlichen Herausforderungen zu groß. Wir müssen so attraktiv und stark werden, dass sich die politische Kompassnadel auf Grün ausrichtet. Es muss uns gelingen, den gesellschaftlichen Zuspruch in politische Relevanz umzumünzen. Wir sind die Alternative zu Angst und Ausschluss. Wir treten ein für eine optimistische, respektvolle, aber ehrgeizige Politik, für eine Gesellschaft der Fairness, in der man nicht die gleiche Identität haben muss, um dazuzugehören. Der Andersheit und Anerkennung.
Ich weiß, dass wir mehr sein können als eine Neunprozentpartei. Ich weiß, dass wir breite Mehrheiten für eine ökologische und freiheitliche Politik erringen können. Ich weiß, dass sich Leidenschaft und Visionen so wie Respekt und Kompromisse nicht ausschließen, sondern bedingen.
Und weil ich nicht damit zufrieden bin, wenn andere regieren, möchte ich für den Bundesvorsitz kandidieren und als Bundesvorsitzender mit Euch zusammen die Grünen zu einem kraftvollen Bündnis machen.
Der Optimismus, dass man den Unterschied machen kann
Jetzt, angesichts so vieler neuer Herausforderungen – manchmal möchte man am liebsten den Kopf in den Sand stecken – müssen wir uns an den Gründungsimpuls des Anfangs erinnern. Welch ein vermessener Anspruch war das damals! Wir schaffen uns unsere eigene Partei! Wir denken in Alternativen! Dieser Optimismus, dass man selbst den Unterschied machen kann, dass sich einmischen lohnt. Nicht Kopf in den Sand, sondern Kopf hoch, Blick voraus und den weiten Horizont sehen! Die Grünen wurden aus dem Geist des Zweifels geboren, der Infragestellung. Und dies geschah aus der Haltung des Mutes. Des Optimismus. Des Veränderungswillens. Genau diese Haltung holen wir uns jetzt zurück!
Und das macht den Unterschied zu anderen Parteien aus, zu den Griesgramen und Bangbüchsen, die in die Vergangenheit zurück wollen, die mit Antworten und Konzepten von Ausgrenzung und Verachtung, von Spaltung und Abschottung, von Neid, Missgunst und Hass agieren, die Ängste nicht abbauen sondern schüren. Oder zu jenen, die jeden Wandel und jeden Fortschritt blind umarmen, denen jede Form von Gemeinwohl nur eine Gemeinheit ist, die glauben, wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht, die Liberalismus mit weiterer Liberalisierung des Marktes, Privatisierung und De-Regulierung verwechseln. Oder die Ideenlosen, die sich selbst im Wege stehen, weil sie von der guten alten nationalen Industriegesellschaft träumen. Die alte Idee der Volkspartei war, alle Strömungen der Gesellschaft einzubinden. Jetzt wird daraus eine Verhaltensstarre, weil man niemandem mehr etwas zumuten will, weil man niemanden mehr verlieren will. Dabei wird genau andersherum ein Schuh daraus: Nur wenn man bereit ist, auch zu verlieren, kann man gewinnen.
Was also ist die Rolle der Grünen in den nächsten Jahren?
Wir sollten in die politische Lücke vorstoßen, diesem Land, diesem Europa wieder eine Idee für eine fortschrittliche, gemeinwohlorientierte, liberale Gesellschaft zu geben. Wenn es die CDU nicht mehr kann und die SPD nicht will: Wir können und wir wollen. Das heißt grüne Eigenständigkeit. Nicht im Gestus der Unterwerfung koalitionsgeschmeidig zu sein, sondern mit der Vermessenheit, ja der Unverfrorenheit des Gründungsgeistes dieser Partei die anderen herauszufordern.
Die Satzung gilt
In den letzten fünfeinhalb Jahren habe ich als Minister in Schleswig-Holstein grüne Themen umgesetzt. Aus der Regierungsverantwortung heraus weiß ich, welch enorme Veränderungen Atomausstieg, Energiewende, Agrarwende für die Menschen bedeuten. Und trotzdem – oder gerade deshalb – ist es gelungen, gesellschaftliche Mehrheiten für unsere Politik herzustellen. Diese Erfahrung hat mich geprägt. Es wird von uns nicht erwartet, dass wir Dinge schönreden oder so tun, als ob alle Herausforderungen widerspruchsfrei zu lösen seien. Es wird von uns erwartet, dass wir uns der Verantwortung stellen, die Konflikte suchen und an Antworten arbeiten.
Die Landtagswahl 2017 hat bewiesen, dass eine solche Haltung honoriert wird. Sie hat uns erneut ein starkes Regierungsmandat gegeben, aber in einer komplizierteren Jamaika-Koalition. Ob wir zum Beispiel die Energiewende- und Klimaschutzziele nicht nur im Koalitionsvertrag stehen haben, sondern sie auch in der Realität erreichen, entscheidet sich im Laufe dieses Jahres.
Mit dieser eingegangenen Regierungsverpflichtung bewerbe ich mich nun als Bundesvorsitzender. Ich biete Euch meine Leidenschaft, meine Erfahrung und meine Kraft an.
Es ist – soweit ich das überblicken kann – das erste Mal, dass sich jemand aus einem Ministeramt heraus für den Parteivorsitz bewirbt. Dass meine Ankündigung eine heftige Debatte über mögliche Satzungsänderungen ausgelöst hat und jetzt Begriffe wie „Lex Habeck“ und „Erpressung“ die Runde machen, finde ich selbst unschön.
Die zugrundeliegende Frage ist jedoch eine andere: Wollen wir die in Regierungen gesammelte Erfahrung zu einem Teil unserer Parteistrategie machen? 1980, als unsere Satzung geschrieben wurde, fünf Jahre vor der ersten grünen Regierungsverantwortung überhaupt, hat sich diese Frage so nicht gestellt. Es war eine andere Zeit und wir Grünen hatten eine andere gesellschaftliche Aufgabe und Rolle.
2004 hoben wir die Trennung von Amt und Mandat für die Bundesvorsitzenden auf, aus der Erkenntnis, dass die Partei stärker ist, wenn sie mit der Arbeit der Bundestagsfraktion verzahnt ist. Jetzt stellt sich die Frage mit Blick auf die Bund-Länder-Ebene. Insofern wird aus meiner Sicht mit der Satzungsfrage eine politische Frage verhandelt, die auch unabhängig von meiner Person Relevanz hat. Unsere Satzung lässt – Stand jetzt – keine Übergangsfrist zu, so dass ein frisch gewählter Vorsitzender oder eine Vorsitzende eigentlich am Tag nach einer möglichen Wahl aus dem Amt scheiden müsste. Das ist für niemanden, der Verantwortung trägt, in der Realität möglich. Um das zu lösen, liegen nun eine Reihe von Anträgen zu Übergangsfristen auf dem Tisch, bis hin zu einer Mitgliederbefragung (ich selbst glaube, dass es eine gute Tradition ist, dass bei solchen Fragen alle Mitglieder entscheiden und dass es unsere Partei auszeichnet, die innerparteiliche Demokratie breitmöglichst zu interpretieren).
Was mich betrifft: Ich bin bereit, das, was ich in Schleswig-Holstein aufgebaut habe, in absehbarer Zeit an eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger zu übergeben. Ich bitte Euch aber darum, dass ich dies verantwortungsvoll tun kann und angefangene Dinge zu einem vorläufigen Abschluss führen oder jedenfalls auf ein sicheres Gleis setzen darf, bevor ich aus dem Ministeramt scheide. Und dass ich das gemeinsam mit dem Landesverband und vor allem möglichen Nachfolger*innen entlang ihrer Lebensplanung, der Sache und der politischen Situation entscheiden kann und nicht entlang all zu starrer enger Grenzen.
Klar ist aber auch: Die Satzung gilt. Das war bei der Urwahl so, wo nach der Satzung eine relative Mehrheit ausreichte, um einen Spitzenkandidaten zu küren. Das gilt erst recht für die mögliche Kandidatur eines Bundesvorsitzenden. Insofern ist das hier also eine Bewerbung ins Ungewisse, von der ich streng genommen gar nicht weiß, ob ich sie abgeben darf. Aber vielleicht spricht daraus genau das, was ich Euch anbieten kann: Dass wir mutig und voller Energie aufbrechen, dass wir uns ins Ungewisse wagen und uns trauen, zu gestalten. Ich hoffe sehr, dass wir einen solchen grünen Aufbruch schaffen. Gemeinsam.