Bewerbungsrede von Robert Habeck für den Listenplatz 2 – Landesliste Schleswig-Holstein zur Bundestagswahl 2021, gehalten am 27.03.2021. Es gilt das gesprochene Wort.
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
ich bin inzwischen gern in Berlin. Aber jedes Mal, wenn ich in Hamburg in die Regionalzüge mit dem „Echten Norden“ drauf steige, atme ich freier. Und wenn ich aussteige ist die Luft salziger, rauer, windiger. Nordluft eben. Klar, ehrlich, frisch. Ein Nordwind. Den wollen wir jetzt auch politisch entfachen. Eine neue Energie und Leidenschaft, um unser Land durch diese schwere und in eine neue Zeit zu führen.
Eine Ansage aus dem Norden
Wir wählen unsere Landesliste nach einer Woche, die einen fassungslos zurücklässt. Jeder Kreisverband der Grünen ist inzwischen besser geführt als dieses Land.
Unsere Listenwahl ist eine Ansage aus dem Norden. Wir treten an, um Wortlosigkeit und Ideenlosigkeit von Union und SPD zu beenden. Ja, die Welt ist kompliziert, meist zu kompliziert für einfache Antworten. Aber Antworten braucht sie:
Den Umbau von Energie, Wirtschaft und Mobilität, damit wir einen klimagerechten Wohlstand schaffen.
Eine neue Landwirtschaftspolitik, die die Bauern nicht mit Steuergeldern in den Ruin treibt und durch die Lebensmittelproduktion nicht die natürlichen Lebensgrundlagen gefährdet. Sondern Bauern stärkt und Lebensgrundlagen wahrt.
Eine andere Finanzpolitik, die sich nicht aus Angst vor Schulden in den Büchern an der Wirklichkeit verschuldet.
In Deutschland investieren
Wir investieren zu wenig in unser Land. Das reiche Deutschland investiert weniger als der europäische Durchschnitt. Die Länder, die bei Forschung, Bildung, Klimaschutz ganz oben stehen, investieren etwa doppelt so viel wie Deutschland. Wir wollen aber nicht länger unterdurchschnittlich sein. Und Durchschnitt ist uns nicht genug.
Was Monika Heinold in Schleswig-Holstein mit dem Infrastrukturprogramm IMPULS aufgelegt hat, das wollen wir – nur noch viel größer – für Deutschland. In Deutschland investieren. Aber nicht allein, damit wir hier aufholen. Keine der großen Herausforderungen unserer Zeit lässt sich national lösen. Durch höhere Investitionen halten wir Europa zusammen.
Europa ist unsere Heimat
Bevor Corona den Kontinent traf, war ich in vielen europäischen Hauptstädten. Man beobachtete dort sehr genau, was in Deutschland passiert. Und Finanzminister*innen und Ministerpräsident*innen sagten unverhohlen – auch von Schwesterparteien von Union und SPD: sie hoffen, dass wir in die Regierung kommen und mit einer besseren Finanzpolitik den Kontinent zusammenhalten.
Europa ist unsere Heimat, wir dürfen sie nicht vor die Hunde gehen lassen. Wir haben Jahre der Selbstverzwergung und Rückabwicklung durch den Brexit hinter uns. Wir haben gesehen, wie schnell in Krisenzeiten Schlagbäume gesenkt werden, wie strategisch gewieft sich China Einfluss sichert, um die europäische Wertegemeinschaft zu unterminieren. Es ist an der Zeit, dass wir unseren Kontinent wieder auf Vordermann bringen, Widerstandsfähigkeit gegenüber China und Russland entwickeln und unseren Einfluss für Klimaschutz, Menschenrechte und Demokratie auf der Welt geltend machen. Deshalb Schluss mit dem dämlichen Gegensatz von deutschen Interessen und europäischen Interessen. Nur wenn es Europa gut geht, geht es uns auch in Deutschland gut.
Staat und Partei sind nicht das gleiche
Ich habe aufgehört, die Korruptionsskandale der Union zu zählen. Nicht nur, dass die Union politisch lahmt und programmatisch blank ist, sie hat ein verhunztes Verständnis von Konservatismus. Abgeordnete sollen dem Wohle des Volkes dienen, nicht dem eigenen. Staat und Partei sind nicht das gleiche – ob sie das nach 16 Jahren in der Regierung verlernt haben oder ob es einfach eine Gefallsucht für Reichtum gibt, man weiß es nicht. Aber hinnehmbar ist das alles nicht. Und wenn diejenigen, die sich Geld zustecken lassen, verhindern, dass der Einfluss von Geld in der Politik aufgedeckt wird, dann stinkt das zum Himmel. Niemand konnte je von der Union gute Ideen für die Zukunft erwarten. Aber Demut vor öffentlichen Ämtern und Dienst für das Allgemeinwohl ist das mindeste, was man von Konservativen erwarten kann.
Wir wollen das Vertrauen in Politik und staatliches Handeln zurückgewinnen. Wir machen Ernst mit der Bekämpfung von Steuerhinterziehung, trocknen Steuersümpfe aus, führen eine Digitalkonzernsteuer ein. Hohe zweistellige Milliardenbeträge werden dem Gemeinwesen vorenthalten. Die Warburg-Bank wäre bei uns nicht auch noch dafür belohnt worden, dass sie betrügt. Vertrauen in die politische Handlungsfähigkeit schafft man, indem der Staat sich mit den Stärksten anlegt. Und da beweist, dass er Klauen und Zähne hat. Und die, die es nicht so dicke haben, unterstützt und stützt.
Ein neues Garantieversprechen
Wir erleben einen dramatischen Wandel. Durch Corona werden Existenzen und Hoffnungen zerstört. Durch Digitalisierung und Robotisierung werden Arbeitsplätze verloren gehen – und neue entstehen. Und die große ökologische Transformation wird die Art, wie wir wirtschaften und arbeiten tiefgreifend verändern. Sie wird deshalb nur gelingen, wenn wir Sicherheit im Übergang schaffen. Den Menschen eine Perspektive geben, ein Recht auf Weiterbildung. Wer seine Arbeit verliert, darf nicht auch noch seine Würde verlieren – ein neues Garantieversprechen durch eine Garantiesicherung. Keiner soll mehr an der Bürokratie scheitern. Den hohen zweistelligen Milliardenbeträgen, die dem Gemeinwesen durch Steuerdumping vorenthalten werden, stehen 40 Milliarden Euro Sozialleistungen gegenüber, die Menschen in Not zustehen, aber nicht abgerufen werden. So soll unser Land nicht sein.
Ein freundlicher und effektiver Staat
Große Veränderungen finden statt, große Veränderungen sind nötig.
Wir treten an, um Politik nicht von den Vorschriften her zu denken, sondern von den Lösungen. Entscheidungen nicht als Verwaltungsakt zu begreifen, sondern als verantwortete Handlungen. Ob ein Staat gut funktioniert, bemisst sich am Resultat, nicht in der Absicht. Ich weiß, es klingt auf einem grünen Parteitag ungewohnt. Aber wir wollen eine undogmatische Politik, die sich nicht dämlichen Gegensätzen von „weniger Staat oder Regeln“ vs. „mehr Regulierung“ verliert, sondern tun, was zählt. Wenn Regeln helfen, gut. Wenn sie nur nerven, nicht gut. Ein freundlicher und effektiver Staat, der den Rahmen vorgibt, aber sonst die Menschen in Ruhe lässt.
Einer lahmen Bundesregierung setzen wir unser neues Wollen und unsere neue Energie entgegen. Dem Mittelmaß, der Müdigkeit, der Missgunst unseren pragmatischen Idealismus.
Gemeinsam stolz sein können
Eine Ära geht zu Ende – Neues kann beginnen. Noch ist es nicht da, aber die Regeln des Alten sind schon außer Kraft gesetzt:
- dass man Probleme aussitzen kann
- dass es schon so schlimm nicht kommen wird
- dass man Zeit hat
- dass das Gute der Feind des Besseren ist.
Die reaktive Art Politik zu machen, wie sie bei der Union zuhause ist, reicht nicht mehr, und auch nicht die reparierende Politik der SPD. Es geht darum, etwas zu schaffen, auf das wir nach vier Jahren gemeinsam stolz sein können, einen Aufschwung, der über das Ökonomische hinausgeht, der Vielfalt und Kultur ermöglicht und Lebenszufriedenheit schafft, die Natur aufblühen lässt, Räume schafft, in denen sich Menschen begegnen, sich irgendwann wieder umarmen, feiern, tanzen werden. Ein Aufschwung, der all das mit einschließt, was nicht durch das Bruttoinlandsprodukt gemessen wird – und unser Leben erst lebenswert macht.
Alles ist drin
Es geht nicht darum, das Schlimmste zu verhindern. Es geht darum, das Beste zu ermöglichen. Und dafür können wir uns etwas trauen und den Menschen im Land etwas zutrauen. Führung heißt nicht, Ich Ich Ich, Führung heißt nicht, der Erste sein zu wollen, Führung heißt nicht, alles besser können zu wollen. Führung heißt, das Beste und das Kreativste, das Stärkste und das Mutigste in anderen zu wecken und groß werden zu lassen. Dann ist alles drin.
Für diese Politik trete ich an. Für diese Politik bitte ich um Eure Stimme. Für einen Wind, der aus Norden bläst.