Freiheit im Herzen statt Herz in der Hose

Während der Koalitionsverhandlungen bei uns lief kürzlich eine Nachricht über den Ticker: „Grüne gegen häufigere Sonntagsöffnungen in Schleswig-Holstein“ und – schwupp – hagelte es im Netz Kommentare: „Spießerpartei“, und: „Gibt es eigentlich überhaupt irgendwas, zu dem die Grünen ja sagen außer zu Verboten“. Dass die CDU das auch wollte, ging irgendwie unter. Verbotschristen schreibt ja keiner, aber Verbotsgrüne schon.

Das Image scheint an uns zu kleben wie Pech und das verunsichert uns. Es sind doch wir, die eigene Lebensstile, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit bis zur Dickköpfigkeit wollen. Warum nur sieht das keiner? Ja, das ist ungerecht, unfair und blöd.

Aber wer wären wir denn, wenn wir uns darüber klein machen und klein machen ließen?

Die Lust, sein Leben zu führen

Freiheit ist ein Gründungsmotiv unserer Partei: die Regelüberschreitung, das Rebellentum, der Wille, die Kraft und der Mut, Dinge anders zu machen, ja: Die Welt zu verändern – welch ein Anspruch! Die Lust, sein Leben zu führen, wie es einem gerade passt, zu leben wie man will, zu lieben wen man will, zu sagen, was zu sagen ist, sich zu kleiden, wie es einen frommt – das sollte Kern unserer freien liberalen Welt sein.

Und seht Euch um: Noch immer sind Parteitage bunter und wilder und wir streiten mehr als andere. Und auch wenn einige nicht jünger geworden sind – sie haben die Freiheit im Herzen bewahrt.

Und das ist es, was wir brauchen. Denn wir erleben gerade einen massiven Angriff auf genau diese liberale Demokratie, für die wir zur Partei wurden, auf genau die freiheitliche Grundordnung, die wir mit erstritten haben. Wir erleben ihn von der Seite der völkischen Nationendenker und aus unaufgeklärtem religiösen Furor heraus. Und weil es Grundimpuls unserer Partei ist, die Freiheiten der Gesellschaft zu wahren und zu mehren, sind dies auch Angriffe auf die grüne Politik, auf unsere Werte. Und zwar von beiden Seiten.

Und so begreifen wir es ja auch. Aber ein autoritäres, kulturelles Roll-Back darf nicht all das zunichte zu machen, was die politische Generationen vor dieser politischen Generation und was wir selbst erkämpft haben.

Ja, es fehlt noch immer die Ehe für alle und ja, es gibt Homophopbie, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus auch heute noch. Und es wird sie wohl leider immer geben – weil Menschen immer auch Menschen diskreditieren und abstempeln. Aber diese Gesellschaft ist alles in allem eine freiere geworden: Frauen können Karriere machen und Kinder kriegen, wenn sie das möchten, Männer können sich um die Familie kümmern, oder auch andersherum, Männer dürfen Männer lieben oder Frauen Frauen, und die Fußball-Nationalmannschaft wirbt mit ihren Spielern gleich welcher Hautfarbe oder Herkunft. Es ist eine gleichberechtigtere, weniger sexistische, weniger rassistische Gesellschaft. Und sie ist es auch – und ich würde sagen – gerade durch die Grünen geworden.

Wir sind nicht außen vor, sondern mittendrin

Daraus folgt dreierlei:

Erstens: Wir sind nicht außen vor, sondern mittendrin. Dies ist die beste Republik, die Deutschland je hatte. Und es ist auch unsere Republik, weil wir dazu beigetragen haben, dass sie so wird.

Zweitens: Es ist eine Zeit, in der die großen Ideale der Aufklärung selbst politisch herausgefordert werden: kritische Vernunft durch Fake News, Solidarität durch Neo-Nationalismus, Gerechtigkeit durch eine wildgewordene Globalisierung, Fortschritt durch Trump. In dieser Zeit kämpfen wir für die Werte der Moderne: Rechtstaatlichkeit, Demokratie, Freiheitsrechte, Fortschritt, Vernunft.

Drittens: Wenn das so ist, wenn dieser Staat unser Staat ist und dieses Land unser Land, dann sollten wir auch so handeln. Staaten scheitern, wenn ihre staatlichen Institutionen nicht mehr funktionieren. Vetternwirtschaft, Korruption, Chaos lassen Angst entstehen. Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und das Vertrauen, dass gesellschaftliche Regeln gelten dagegen sind die Bedingungen für das Zusammenleben, dafür, dass sich Kreativität und Talente entfalten können, dass Neues entsteht. Dafür, dass Mut gelebt wird. Wer gesellschaftlichen Fortschritt will und wer für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eintreten will, muss sich deshalb um den Staat kümmern. Das ist unser Job. Wir sagen Ja zu diesem Land.

Sich etwas abverlangen wollen

 Und aus diesem Ja wächst Verantwortung – und eine Chance.

Multi-Kulti ist ja irgendwie so was wie ein Schimpfwort geworden, und für unsere Gender-Agenda werden wir gern von manchen belächelt, von anderen verächtlich gemacht. Aber packen wir doch beides zusammen: Wir wollen Integration. Aber jeder, der hier klaut, grabscht, vergewaltigt, der Sexismus, Homophobie oder Antisemitismus zu Hetze oder Tat werden lässt, der wird in uns die entschiedensten Gegner finden.

Wir wollen, dass jede und jeder zuerst an die Grünen denkt bei der Frage: Wie schaffen wir gesellschaftlichen Zusammenhalt und garantieren das freie Leben in öffentlichen Räumen – egal wie man lebt, liebt, glaubt und woher man kommt,  Dann werden Sicherheit und Freiheit grün geschrieben. Das ist unsere Aufgabe als Gesellschaftspartei.

Und das Wahlprogramm, das wir jetzt beraten, schlägt genau diese Richtung ein. Es definiert unser Verhältnis auch zum Gewaltmonopol des Staats konstruktiv. Wir schlagen vor, dass es ein Bundesamt für Gefahren- und Spionageabwehr gibt, wir treten ein für eine starke Polizei für die Bürgerinnen und Bürger. Wir sagen ja zu Fortschritt und zu Digitalisierung. Und wir treten ein für Selbstbestimmung im Netz und sagen, wie unsere Freiheit vor dem Datenhunger geschützt werden kann. Und genauso sagen wir: Es muss auch einen Raum des Privaten geben, der nicht in der digitalen Cloud für jedermann zugänglich ist. Irgendwie, irgendwo, irgendwann wann muss man frei sein können vom Chef, der einem immer wieder Mails, SMS oder Whatspps oder alles gleichzeitig  schreibt.

Und ein Einwanderungsgesetz zwingt uns und der Gesellschaft den jetzt anstehenden Schritt auf. Es sagt eben nicht: die Grenzen sind immer offen, noch sagt es, wir wollen niemanden reinlassen, sondern es definiert, wieviel, wie und wer zuwandert. Das ist notwendig, denn im Augenblick zwingen wir alle Menschen, die auf der Flucht vor Not, Terror, Krieg und Armut bei uns nach einer sicheren Zukunft suchen, ins Asylsystem. Und das vor allem, weil konservative Politiker einem völkischen Reinheitsgebot nachhängen und meinen, ohne Einwanderung ist es doch viel schöner, und deshalb keine legalen Einwanderungswege eröffnen. Das zerstört das Asylsystem und wird den Menschen auf der Flucht nicht gerecht. So ein Gesetz zu schreiben, das wird uns allen noch viel abverlangen.

Aber genau das bedeutet Freiheit heute – wie ja auch damals, als wir gegründet wurden: Sich etwas abverlangen zu wollen. Sich trauen und sich zutrauen und nicht in Angst zu erstarren.

Der Tabubruch

Und das ist ja genau das, was unsere liberale Demokratie lebendig macht: dass es auch anders sein kann.

Unsere Demokratie ist das große Versprechen: Es darf anders werden. Es kann anders werden. Dass wir jetzt den Weg in eine Jamaika-Koalition wagen, ist Ausdruck, ja Ergebnis dieses Versprechens. Jamaika war nicht vorgesehen, es war nicht geplant, nicht berechnet. Aber die Wählerinnen und Wähler haben sich nicht an das gehalten, was wir gern gehabt hätten. Irgendwie doof ja – und trotzdem grandios: Es darf anders werden.

Und ganz ehrlich: Es hatte etwas Befreiendes, als wir Verhandlungen zu Jamaika beschlossen haben. Denn NEIN schon gleich zu Anfang hätte bedeutet, sich dem Neuen, dem Anderen zu verweigern. Konformismus sagt nicht nur immer ja. Es ist genauso konformistisch, gleich zu allem Nein zu sagen.

Ja, Jamaika war ein Tabubruch. Wir haben uns aus freien Stücken entschieden, über Jamaika zu verhandeln. Wir haben Ja gesagt, – zu Mühen und schwierigen Debatten. Aber eben auch zu einem politischen Existentialismus. Wir Bejahen unsere Situation – und mag sie noch so verdrießlich sein. Das Neue widerspricht unseren Gewohnheiten. Es zwingt uns, in eine neue Rolle.  Es zwingt uns zur Infragestellung. Auch der eigenen Selbstgewissheiten. Das verlangt Mut.

Freiheit beweist sich

Angst vor offenen Räumen heißt im Griechischen Agoraphobie. Die Agora, das war der Fest-und Versammlungsort der attischen Demokratie, es war der zentrale Platz für Streit und Diskussion, es war das Herz der Gemeinschaft.

Und Freiheit beweist sich im Reden und Handeln. Sie beweist sich in der Rücksichtnahme: Denn wer seine Freiheit absolut setzt, verletzt die Freiheit anderer. Deshalb ist die schrille Stilisierung der Gegensätze – Markt und Freiheit einerseits und Verbot und Regeln andererseits ziemlicher Unsinn. Auf der einen Seite steht das Verbot von Glühbirnen, das Eintreten für ein Tempolimit, die Verteuerung von fossilen Brennstoffen oder auch der Schutz der sonntäglichen Freizeit von Menschen. auf der anderen Seite steht die Ablehnung von all dem – und zwar im Namen der Freiheit: also das Recht auf Rasen, auf so viel Fleisch, wie man essen möchte, auf Energieverschwendung, aufs Einkaufen, wann immer man will.

Spätestens diese Gegenüberstellung zeigt, wie falsch, ja kläglich, die Verabsolutierung des Gegensatzes ist. Wer sein Recht auf Rasen voll ausnutzt, rast andere im Zweifelsfall zu Tode. Hatte der andere nicht aber ein Recht darauf zu leben?

Meine eigene Freiheit wird eben immer auch durch die Freiheit der anderen mitbestimmt. Gerade Errungenschaften der Freiheit wie Recht auf Erwerb von Eigentum, Berufswahl- und Meinungsfreiheit gehen immer auch einher mit Pflichten und setzen Verbote und Einschränkungen in Kraft: Zum Schutz des Eigentumsrechtes ist Diebstahl verboten, Windkraftanalgen dürfen nicht einfach überall rumstehen, Meinungsfreiheit findet ihre Einschränkung in den Grenzen von Anstand, Respekt und der Würde der anderen.

Es ist ein Spannungsverhältnis zwischen Republiksinn und Persönlichkeit. Toleranz bedeutet eben nicht, allen immer Recht zu geben, sondern für seine Meinung einzustehen und die anderer zuzulassen. Und eine freiheitliche Politik ist weder eine Politik, die auf Regeln verzichtet, noch eine, die alles regeln will. Sondern unser Job ist es, die Spannung immer neu auszutarieren und um Lösungen zu ringen.

Freiheit heißt also nicht, dass man keine Pflichten und Verantwortung hat, sondern dass man sich selbst für sie entschieden hat.

Ja, sich selbst entscheiden und die Dinge in die Hand zu nehmen. Darum geht es. Nicht die anderen entscheiden für uns, wer wir sind und was wir tun, sondern wir entscheiden. Deshalb: Die Freiheit im Herzen nützt nichts, wenn man das Herz in der Hose hat. Nehmen wir uns ein Herz, sagen wir Ja zur Verantwortung. Machen wir die Grünen zur Kraft der Gegenwart. Diese Freiheit nehmen wir uns. Und am besten nicht irgendwann, sondern jetzt. Unsere Zeit ist jetzt.

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