Im letzten Jahr ist etwas passiert. Nachdem über drei Jahre Angst und Angstmacherei die Politik dominiert haben, es Kampfbegriffe wie „Asyltourismus“ in die Mitte der politischen Debatte schafften, hat die Zivilgesellschaft ihre Zivilcourage gefunden, gesammelt und damit einem Trend Einhalt geboten: dem Versuch, den rechten Populismus zu adeln, ihn in die Mitte der Gesellschaft zu hieven und ihn zur bestimmenden Agenda zu machen.
Diese Gegenwehr kam aus dem Bürgersinn der Gesellschaft. Offenkundig wurde seine Kraft bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen, bei den großen Demonstrationen in München und Berlin, bei der Fridays-for-Future-Bewegung, bei Pulse-of-Europe, beim bayerischen Volksbegehren gegen das Artensterben.
Signal an uns Politiker: Beweist Handlungsfähigkeit
All das sendet ein Signal aus an diejenigen, die von Berufs wegen Politik betreiben: Traut uns was zu! Und Euch! Und traut Euch! Beweist politische Handlungsfähigkeit! Schafft neues Vertrauen in die Gestaltungskraft liberaler Demokratien!
Wir wissen, dass wir in Zeiten des Umbruchs leben, die uns vor immense Probleme stellen: alte Konflikte wie die Konfrontation zwischen den USA und dem Iran brechen auf, neue entstehen, die internationalen Institutionen sind geschwächt, digitale Weltkonzerne entziehen sich ihrer Verantwortung fürs Gemeinwohl systematisch und unterminieren das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der einzelnen Staaten und der Europäischen Union. Die großen, existenziellen Krisen, das Artensterben und die Klimakrise, machen eine andere Politik nicht nur für 2040 oder 2050 notwendig, sondern für schon 2019, 2020, 2021. Die Verteidigung des Status Quo reicht nicht mehr.
Und jetzt steht die Europawahl an. Zu oft wurde sie als eine ferne Wahl nicht ernst genommen, Brüssel erscheint vielen weit weg und abstrakt. Aber diese Wahl ist anders. Sie kann die Bewegung der letzten Monate aufnehmen. Sie kann dem Aufbruch, der sich auf Straßen und noch viel mehr an Küchentischen vollzogen hat, Ausdruck geben, eine Stimme, wenn sich genug Stimmen einen.
Wir leben im besten Europa, das es bisher gab
Dass Europa funktioniert ist Voraussetzung dafür, dass wir auf transnationale Probleme überhaupt noch Antworten geben können. Europa bedeutet, die Handlungsfähigkeit von Politik herzustellen. Und diejenigen, die den Nationalismus predigen – Grenzen dicht, Mauern hoch – wollen Europa zerstören. Sie zielen darauf, dass Politik handlungsunfähig wird und Freiheit und Demokratie scheitern. Sie malen das altertümliche Weltbild des „Früher-war-alles-besser“ – war es nicht! Bei allen Problemen und Ungerechtigkeiten: Wir leben im besten Deutschland und im besten Europa, die es bisher gab. Geben wir es nicht auf! Bauen wir es weiter!
Gerade für Deutschland und die deutsche Politik gilt, dass der Gegensatz zwischen europäischen Interessen dort und deutschen Interessen hier falsch ist. Historisch und ökonomisch hat kein Land in Europa wie Deutschland von der europäischen Einigung profitiert. Und deshalb liegt es schon im ureigenen Interesse Deutschlands, dass Europa sich immer stärker eint.
Nur, wenn wir Europa erneuern, werden wir es erhalten
Nur ist die deutsche Politik in der jüngsten Vergangenheit ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Vorschläge zur Besteuerung digitaler Großunternehmen – Olaf Scholz hat sie ausgeschlagen. Vorschläge, eine gemeinsame CO2-Bepreisung einzuführen? Die Bundesregierung hat sie ausgeschlagen. Eine europäische Investitionsoffensive will man nicht und verhindert damit, Europa krisenfest zu machen. So hat Deutschland schon in der Eurokrise agiert, mit dem Ergebnis, dass die Armut in Ländern wie Griechenland wuchs, dass sich das Gefühl eingebrannt hat, die EU diene den Banken, nicht den Bürgerinnen und Bürgern. So erhielt der Populismus Unmengen an Nährstoff. Auf der Westseite des Rheins herrscht in Bezug auf Deutschland pure Frustration. Die Bundesregierung kann oder will den historischen Moment nicht begreifen, auch, weil die sie tragenden Parteien mit sich selbst beschäftigt sind.
Aber die Europawahl ist eine Chance, ähnlich wie die bayerischen und hessischen Landtagswahlen es waren, in Bezug auf den Rechtspopulismus ein Signal zu senden: die überaus große Mehrheit der Deutschen will, dass pro-europäisch gedacht und vor allem gehandelt wird. Und es ist möglich. Der 26. Mai kann Deutschland und Europa wieder eine Orientierung geben und einen Kompass. Nur wenn wir Europa erneuern, werden wir es erhalten.