Verfassung und Republik, Macht und Mythen
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Bückeburg in Niedersachsen, eine Kaserne: Das ist meine erste Station auf dieser politischen Sommerreise in einem nervösen Deutschland. Hier möchte ich erfahren, wie es ist, heutzutage Soldat zu sein, inmitten der Weltunordnung.
Als ich um die Mittagszeit den Raum betrete, stehen alle Soldaten ruckartig auf. Etwa zwanzig Männer in Uniform, eine Frau. Als ich mich setze, setzen sie sich. Der Oberst spricht mich mit „Herr Vorsitzender“ an. Fremd und ungewohnt ist das, und die ersten Sätze im Gespräch sind ein gegenseitiges Tasten: Wer ist der Typ in Jeans, wer sind die Leute in Uniform? Aber die Fremdheit weicht im Gespräch. Und aus dem Ungewohnten entwickelt sich eine spannende Diskussion (keine Ahnung, ob das den Soldaten auch so ging). Gerade weil das Innenleben der Bundeswehr mir fremd ist.
Republikanisches Selbstverständnis der Armee: Die Politik muss sagen, was Sicherheitspolitik bedeutet
Wir sprechen ohne Presse und Öffentlichkeit. Die Soldaten erzählten von Auslandseinsätzen und dem Zusammenhaltsgefühl, das dabei entsteht, aber auch von der langen Zeit fern von zu Hause, vom veränderten Rollenbild, Soldat zu sein und von der Zusammenarbeit mit Soldaten anderer Länder. Gerade beim letzteren horche ich auf. Habe ich doch schon mehrfach in Interviews den theoretischen Weg zu einer europäischen Armee skizziert. Aber aus der Praxis heraus ist der wohl schwieriger. Nicht, weil die Soldaten nicht miteinander klar kommen. Sondern weil es unterschiedliche Strategien für die jeweiligen Armeen gibt. Oder eben keine.
Als ich sie bat, mir einmal eine strategische Linie für eine deutsche oder europäische Armee im 21. Jahrhundert aus ihrer Sicht zu skizzieren, ergreift der Oberst das Wort. Sie seien eine Parlamentsarmee, sagt er klar. Und das heißt nicht nur, dass der Bundestag über das Geld für die Bundeswehr bestimmt und Auslandseinsätze beschließt, sondern dass die Politik auch die Strategie der Verteidigung festlegen muss, nicht andersrum. Und er beruft sich auf unser Grundgesetz. Ich fühle mich ertappt. Und bin gleichzeitig ergriffen. Die Bundeswehr als Dienstleister – das ist das republikanisches Selbstverständnis, das mit der militärischen Machtphantasie der Jahrhunderte vor uns bricht. Nicht mehr die Armee als eigenmächtiger Staat im Staate, sondern der Verfassung und dem Parlament verpflichtet. Umgekehrt heißt das aber auch, dass die Politik liefern muss: Sie muss sagen, was Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert bedeutet, welche Rolle die Bundeswehr dabei spielt, welche Europa und was man dafür braucht. Eine Riesenaufgabe. Und diesen Job wird die Bundeswehr der Politik nicht mehr abnehmen. Und das ist eine gute Nachricht!
Unterm martialischen Denkmal: Schneidersitz auf dem Rasen
Hermannsdenkmal Detmold, nachmittags. Vor diesem Termin hatte ich Bammel, und der wächst, als ich den breiten Weg zum Hermann hochlaufe: Ein Koloss von Denkmal, Sockel; Unterbau und Kuppel fast dreißig Meter hoch, und darauf steht Hermann, martialisch sein sieben Meter langes Schwert in die Luft gereckt, Bart, Muskeln, Macht. Und in den Unterbau aus Sandstein Sprüche eingraviert, die der Erzfeindschaft zu Frankreich huldigen. Gleichzeitig mit uns steigt eine Gruppe auf, die für mich wie eine Rentnerreisegesellschaft aussieht. Aber einer der kundigen Historiker, die uns begleiteten, erkennt unter ihnen einen bekannten Rädelsführer der neuen Rechten. Und eine Grüne weist mich darauf hin, dass die Fotos von mir vor dem Denkmal wie eine Adelung dieses kriegerischen, nationalistischen Ortes wirken könnten.
Der konstruierte Mythos: Hermann als Vaterfigur des Nationalstaats
Aber kurz danach sitzen wir auf dem Rasen, die einen hockend, die anderen im Schneidersitz, und diskutierten mit den Historikern. Schnell kommt das Gespräch vom formalen „Was-wann-wer-wo“ zur Frage, des Wie und Warum. Wie wurde der Hermannsmythos geschaffen und warum? Das deutsche Bürgertum war im 19. Jahrhundert zur politischen Kraft geworden. Anders als der Adel zuvor, konnte es sich aber nicht auf einen
Stammbaum und einen von höheren Mächten verliehenen Anspruch berufen. Also suchte es als identitätsstiftende Form etwas anderes: den Nationalstaat. Aber den gab es nicht, jedenfalls nicht in Deutschland. Und um seine Notwendigkeit nicht nur politisch abstrakt zu begründen, brauchte es eine historische Begründung.
Die wurde in der Schlacht des Cheruskers Arminius gegen die Römer gefunden. Diese Geschichte hatte starke Anklänge an das Nibelungenlied, die gepanzerte römische Armee als Lindwurm, der Verrat an Siegfried und der Mord an Arminius, der edle Wilde gegen die höfische Bürokratie…. Und es funktionierte. Man schuf quasi zur Gründung des Deutschen Reichs eine Vaterfigur des deutschen Nationalismus. Ein Mythos wurde erschaffen, um der Nation einen Begründung zu geben.
Nichts mehr mit weihevoll: Arminia Bielefeld-Trikot für den Koloss
Die historische Ableitung, der Ursprung der Deutschen in der Varusschlacht und Hermann aber, das ist damit ja auch gesagt, ist eine Fiktion. Die Geschichte einer eigenen deutschen zwangsläufigen Entwicklung ist buchstäblich eine Geschichte. In diesem Fall war die Geschichte selbst eine nationalistische, weil sie als deutscher Sonderweg entworfen wurde. Eine, die sich immer gegen Bedrohung von außen wendet und kulturelle Einflüsse nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung begreift. Auch das zeigt der Hermann eindrücklich: Er wurde zum Mythos von Macht, Stärke und Überlegenheit gegenüber anderen Nationen. Die andere Erzählung von Arminius, nämlich die eines Kämpfers für Freiheit, die im 18. Jahrhundert sogar in Frankreich dem Bürgertum als Hintergrundfolie diente, um sich gegen die Monarchie zu stellen, war damit endgültig passé.
Heute ist das Denkmal in erster Linie ein Ausflugsort. Als Bielefeld in die erste Liga aufgestiegen war, wurde Hermann ein riesiges Arminia-Trikot übergezogen. Und jetzt hocken wir das im Gras. Weihevoll ist da nichts mehr. Und das ist gut.
Aber: Wie schaffen wir Leidenschaft für das Versöhnende?
Aber für mich bleibt die Frage, ob nicht die Logik, die zu diesem Denkmal führte, nicht auch progressiv und europäisch genutzt werden kann. Genutzt werden muss. Welche Geschichten erzählen wir uns von Europa? Wie schaffen wir Leidenschaft für das Versöhnende, nicht das Trennende? Gibt es einen Mythos, der kulturellen Bereicherung und welcher Ort, welches Denkmal könnte dafür stehen? Vielleicht finde ich das bei der nächsten Station heraus….