Redemanuskript von Robert Habeck zur Einbringung des Leitantrags „Eindämmung, Erholung und Erneuerung“ des Bundesvorstands von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf dem digitalen Parteitag am Samstag, 2. Mai 2020.
Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
seit drei Wochen brennen die Wälder in der Nordukraine. Ganz in der Nähe von Tschernobyl. Man kann vom Reaktorgelände aus das Flammeninferno sehen. Dass das Feuer sich so schnell ausbreitete, dass es anhaltend wüten kann – das ist der Dürre dieses Jahres geschuldet.
Ich war 16, als dort der Atomreaktor explodierte. Das, was der Sommer meines Lebens werden sollte, war auf einmal eine Zeit der Verbote, der Einschränkungen und Angst. Jetzt bin ich 50. Und dieses Jahr ist, wenn auch ein Ausnahmezustand, für mich und Menschen, die so alt sind wie ich, ein weiteres Frühjahr nach einem halben Jahrhundert.
Bei vielen Menschen muss man sich in dieser Krise bedanken, die sonst wenig Anerkennung bekommen. Den Kassiererinnen, den Pflegerinnen. Ich möchte diesem Dank einen weiteren hinzufügen. Ich möchte mich bei den Jungen bedanken. Bei denen, die jetzt den Mai ihres Lebens genießen könnten, bei denen, die jeden Tag wie den ersten erleben wollen und leben wollen. Beim Fußball das Tor des Jahres schießen, auf Klassenfahrten Unsinn machen, Abi-Ball feiern, an Stränden und in Freibädern freibaden.
Dass Ihr das alles mitmacht ist ein wahnsinniges Zeichen von Solidarität und Reife. Ihr seid die Erwachsenen im Raum. Und die, die nicht 16, 20 oder 26 sind, werden das nicht vergessen, sondern zurückgeben – in Taten – auf das Euch eine Zukunft offen steht. Eine Welt.
Ich habe von Tschernobyl damals in den Nachrichten erfahren, aber gesehen habe ich nichts. Ich habe auch nichts gehört, nichts gerochen und nichts geschmeckt. Aber die Gefahr war da, alle wussten es.
Dass nur Vorsorge Sicherheit schafft, hab ich damals begriffen. Dass das, was wir heute entscheiden, sich morgen auswirkt und dass das, was morgen kommt, auf Entscheidungen beruht, die wir heute treffen. Ich habe verstanden, dass Experten streiten, aber am Ende Politik entscheiden muss. Dass Bedrohungen keine Grenzen kennen und dass Veränderung global sein muss. Dass nicht Effizienzlogik, sondern Nachhaltigkeit unsere Handlungsmaxime sein muss. Dass Materialismus und Massenkonsum Glück nur simulieren, nicht ersetzen. Dass Kooperation in eigenem Interesse ist.
Und ich habe gelernt, dass viele Menschen so denken wie ich und dass es eine Partei gibt, in der dieses Denken zu politischem Handeln wird: Die Grünen.
Und jetzt erleben wir in der Corona-Pandemie, wie genau diese Urerfahrung in unserer Grünen DNA den gesellschaftlichen Kompass neu ausrichten muss – aufgeklärt zu handeln und präventiv zu entschieden: Wenn der Schaden entstanden ist, ist es zu spät.
Wir definieren Sicherheit neu, als Vorsorge, als Widerstandsfähigkeit – sei es gegen Viren, gegen Atomenergie, gegen den Klimawandel oder gegen Finanzkrisen. Wir wollen Grenzen überwinden, die sich derzeit überall schließen: Weil alle großen Gefahren uns in diesem Jahrhundert weltweit bedrohen.
Ja, wir können Disziplin und Ordnung, Entsagung und Gehorsam. Aber wir wollen hin zum bunten Leben, wir wollen das soziale Ich, das kreative und kulturell reiche Wir. Und Hyperkonsum und Turbokapitalismus hinter uns lassen.
Leitantrag: Eindämmung, Erholung und Erneuerung
Dieser Kompass richtet auch unseren Leitantrag aus.
- Die kapitalistische Globalisierung nach dem Prinzip der Billigkeit ist an ihr Ende gekommen. Wer hätte gedacht, dass ein Land wie Deutschland nicht in der Lage ist, Mund-Nasen-Masken zu produzieren? Und dass es den Fleiß derer braucht, die noch eine Nähmaschine bedienen können, dass die staatlichen Vorgaben überhaupt eingehalten werden können. Danke an all die Menschen – meistens Frauen – die jetzt in Heimarbeit die eigentlich staatliche Vorsorge machen. Danke an all die Mütter, Groß- und Schwiegermütter, die jetzt hunderte von Masken nähen – ohne Lohn dafür zu verlangen. Aber die Konsequenz ist eine politische: wir brauchen eine neue Robustheit der Realwirtschaft, regionale Produktionskapazitäten mindestens für kritische Güter und Waren.
- Europa ist schwer angeschlagen – auch weil die Bundesregierung wieder gezögert und taktiert hat. Europa muss jetzt den Schritt machen, von einem marktwirtschaftlichen Projekt zu einem politischen zu werden. Es ist nicht die Stunde der nationalistischen Geier, es ist die Stunde, Phönix zu werden. Eine Gemeinschaft zu sein, heißt, gemeinschaftlich zu handeln. Von einer gemeinsamen Haftung für Anleihen bis zu einer gemeinsamen Steuerpolitik, um Amazon, Facebook und Co endlich dazu zu bringen, ihren Anteil an der Finanzierung des Gemeinwesens zu schultern. Ein neuer Nationalismus ist nicht die Alternative, sondern die Zerstörung von Möglichkeiten. Er macht schwach, hilflos und schadet unseren eigenen Interessen. Um das zu drehen, um gemeinsam widerstandsfähig zu sein, braucht es neue politische Kraft – geben wir sie. Bringen wir sie auf!
- Und nicht zuletzt das, was immer gesagt wurde, jetzt einlösen: Geld mobilisieren, um unsere Wirtschaftsweise auf Klimaneutralität umzubauen. Für uns. Für unsere Kinder. Für die, die jetzt den Sommer ihres Lebens opfern.
Das hat schon einmal nicht geklappt. Der Grüne New Deal war schon in der Finanzkrise vor zehn Jahren unser Konzept. Es kam anders, Milliarden wurden verbrannt, ohne ökologische und soziale Lenkungswirkung zu entfalten. Auch, weil wir nicht in der Verantwortung waren. Weil Union und FDP und SPD einfach nur als Alte bewahren wollten. Das muss diesmal anders sein. Und wenn ich die Kommissionspräsidentin höre und Teile der Wirtschaft dieser Tage, dann sehe ich die Chance, dass wir diese Krise diesmal anders nutzen.
Hilfen an Industrieunternehmen müssen der ökologischen Modernisierung dienen. Und Voraussetzung ist, dass diese Unternehmen auf Boni und Dividenden verzichten und öffentlich machen, wo und ob sie Steuern zahlen und wo nicht.
Damit protzen, dass man 20 Milliarden Euro Gewinn macht, Boni an Mitarbeiter und das Management und Dividenden an die Aktionäre auszahlt, aber um Steuergeld bittet, dass am Ende von der Krankenpflegerin aufgebracht werden muss – das ist schamlos. Das geht nicht.
Für einen Pakt für Nachhaltigkeit
Wir reichen den Unternehmen die Hand zu Rettung – aber wenn sie sie ergreifen, besiegeln wir damit einen Pakt für Nachhaltigkeit.
Konkret heißt das:
- Direkte Hilfen sollen in Investitionen gehen, die Umweltzielen dienen. Die EU hat ein Kriterienraster entwickelt, mit dem man ökologische Innovationen messen kann, die so genannte Taxonomie. Bringen wir es zur Anwendung!
- Wir nutzen die Chance zum Einstieg in eine grüne Wasserstoffwirtschaft – für die Stahlproduktion, die großen Antriebe, die chemische Industrie.
- Kredite können, wenn sie dazu genutzt werden, Klimaschutzziele zu erreichen, erlassen oder teilerlassen werden.
- Wir senken die EEG-Umlage um fünf Cent je Kilowattstunde und gleichen das aus der Steuer aus. Die Zahlungen an die Erneuerbaren gehen selbstverständlich weiter. Aber so entlasten wir die Bürgerinnen und Bürger, vor allem die Haushalte mit niedrigeren Einkommen und machen Strom günstiger und beschleunigen so den Umstieg auf e-Mobilität, Wärmepumpen, Power-to-heat-systeme.
- Hilfen für die Automobilindustrie kann es nur geben, wenn sie einer Verkehrswende dienen. Wenn die Automobilindustrie zusätzlich Geld bekommt, müssen umweltschädliche Subventionen abgebaut und in der Kfz-Steuer ein Bonus-Malus-System eingebaut werden. Die EU-Flottengrenzwerte müssen entsprechend dem Pariser Klimavertrag angepasst werden. Das Ganze muss verbindlich geregelt werden. Keine erneute Abwrackprämie wie 2009.
- Staatliche Beteiligungen an Unternehmen sind an die Bedingung von ökologischen und sozialen Kriterien für die jeweiligen Branchen gebunden. Für die Luftfahrt heißt das, dass sie ähnlich wie die Autobranche Klimaschutzvorgaben bekommt – eine CO2 Reduzierungsstrategie zum Beispiel durch Streckenschließungen für kürzere Inlandsflüge, Ausweitung des Nachtflugverbots oder die Erneuerung der Flugzeugflotte durch effizientere und schadstoffärmere Flugzeuge.
Gerade jetzt, in der Krise, wo große Entscheidungen in kurzer Zeit gefällt werden, die unser Leben noch auf viele Jahre prägen werden, kommt es darauf an, sich einzumischen. Gerade jetzt, wo alles nur Gegenwart und Krise zu sein scheint, öffnet sich auch eine Tür zur Zukunft. Verhindern wir einen reaktionären Rückfall – kämpfen wir für die Renaissance des 21. Jahrhunderts.