Der Staat, das sind doch wir

In der Wirtschafts- und Finanzpolitik werden gerade prinzipiell unterschiedliche Gesellschaftsvorstellungen sichtbar.

Ein kapitaler politischer Bock

In Baden-Württemberg macht der neue grüne Finanzminister, Danyal Bayaz, das, was alle fordern – er digitalisiert die Verwaltung. Dazu gehört auch, dass das, was bisher per Telefon, Mail oder Post möglich war, nämlich anonyme Anzeigen wegen Steuerbetrugs zu stellen, nun über ein Online-Portal möglich ist. So könne die Steuerverwaltung durch gezielte Rückfragen den «Anzeigenschrott» von «werthaltigen Hinweisen» trennen“, sagte der Bundesvorsitzende der Deutschen Steuergewerkschaft, Thomas Eigenthaler dem Handelsblatt dazu.

Soweit, so unaufregend. Allerdings gehen CDU, CSU und FDP steil. Von Denunziantentum, Blockwartmentalität, Steuerpranger ist die Rede, in so mancher Kommentierung taucht ein Stasi-Vergleich auf. Selbst aus der SPD gibt es Kritik. Dass das CSU-regierte Bayern ebenfalls online anonyme Anzeigen entgegennimmt (und das Finanzamt schreibt: „Mit einer Anzeige setzen Sie sich für mehr Steuergerechtigkeit ein“, siehe hier), – offenbar egal. Dass auf der Bundesebene die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die BaFin, ein elektronisches Hinweisgebersystem hat, also quasi im Namen der GroKo, oder das Bundeskartellamt – geschenkt. Es ist ja Wahlkampf…

Ja, es ist Wahlkampf. Und ich finde es ausdrücklich richtig, dass im Wahlkampf über unterschiedliche politische Ansätze und Antworten gestritten wird, über Steuererhöhung oder Steuersenkung, darüber, wer profitiert, wie viel wir investieren und in was, oder ob wir lieber sparen, und welche Investitionen wir dann unterlassen. Es wird sogar eher zu wenig darüber gestritten. Aber das ist ja gerade nicht die Debatte. Die Debatte ist, ob wir Steuern, die dem Gesetz nach zu zahlen sind, auch einnehmen oder ob es okay ist, wenn so mancher sagt, och, nö, ich lasse das lieber mit dem Steuern zahlen, während die überaus große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ihren Pflichten nachkommt. Wenn man der Meinung ist, dass Steuern zu hoch sind, so ist die Folgerung, dass Steuerhinterziehung deshalb statthaft ist, doch eine kategoriale Fehleinschätzung. Das Steuerrecht darf man ändern wollen – dafür plädieren, sich nicht an das Recht zu halten, zerstört aber die Grundlagen von Staat und Gesellschaft.

Ein Deutungsrahmen für das politische Handlungsmandat

Wie kommt es dazu? Meine These: Es ist kein Versehen, sondern in Teilen von Union und FDP existiert ein krudes Staatsverständnis, ein verhunzter Begriff davon, was konservative Werte sind, und ein vulgäres Freiheitsverständnis. Es macht sich fest an der Gegenüberstellung von „mehr Staat oder mehr Markt“. Denn der eigentliche Unterschied zwischen den, sagen wir, „Staat“- und „Markt“-Lagern ist nicht primär die unterschiedliche Vorstellung über die Größe des Staates, sondern ein unterschiedliches Verständnis von Staat und Gesellschaft. Es handelt sich damit um einen grundsätzlich anderen Deutungsrahmen für das politische Handlungsmandat. Mit dieser unterschiedlichen Sichtweise geht auch ein unterschiedliches Verständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge einher. Dies betrifft sowohl das Zusammenspiel zwischen wirtschaftlichen Aktivitäten und staatlichen Ausgaben als auch die grundsätzliche Abhängigkeit zwischen Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft. Das wiederum wirkt sich auch auf die Wahl der wirtschaftspolitischen Instrumente aus.

Der unterschiedliche Deutungsrahmen zeigt sich zuallererst anhand der verwendeten Sprache und Metaphern. Vor allem die FDP, aber auch CDU und CSU zeichnen ein Bild der Trennung zwischen „wir“ und „die“ (bis hin zu „die da oben“). Auf der einen Seite die Bürgerinnen und Bürger – meist verkürzt auf ihre Rolle als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Auf der anderen Seite „der Staat“ und „die Bürokratie“, „die Steuerverwaltung“. Diese Unterscheidung geht zuweilen soweit, dass beabsichtigt oder unbeabsichtigt suggeriert wird, die Gesellschaft müsse vor dem Staat geschützt werden. Entsprechend auch jetzt der Vorwurf von „Stasi“-Staat. Diese Perspektive ist insofern bemerkenswert, als in einer Demokratie die Gesellschaft per Definition doch selber Inhaberin und Schöpferin der Staatsgewalt ist – „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es im Grundgesetz. Dies hat übrigens CSU-Innenminister Horst Seehofer jüngst in bemerkenswerter Weise in der FAZ auf den Punkt gebracht: „Wir gemeinsam sind der Staat“.

Am Beispiel der Wirtschafts- und Finanzpolitik

Der staatskritische Deutungsrahmen lässt sich anschaulich am Beispiel der Wirtschafts- und Finanzpolitik zeigen, vor allem im Zusammenhang mit Steuern und Bürokratie. Insbesondere die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling hat die Wirkung solcher Deutungsrahmen untersucht und den Blick für sie geschärft, und ihre Erkenntnisse prägen die folgende Analyse. So heißt es im Wahlprogramm der CDU/CSU: „Wir brauchen (…) einen Neustart im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Der Staat muss sich nach der Pandemie wieder deutlich zurückziehen und den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Unternehmen mehr Freiraum lassen. (…) Wir werden daher ein umfangreiches Entfesselungspaket auf den Weg bringen, das Unternehmen von Steuern und Bürokratie entlastet (…) Unser Ziel: Die Macherinnen und Macher sollen ihre Tatkraft zuallererst dafür einsetzen, erfolgreich zu wirtschaften und nicht für die Erfüllung bürokratischer Pflichten. Denn das bringt unser Land voran. (…) Wir bleiben auch in Zukunft beim Grundsatz ‘Entlasten statt Belasten‘,.“

Auch die FDP fordert ein „Entfesselungspakt für die deutsche Wirtschaft“. In ihrem Wahlprogramm liest man zudem: „Wir setzen auf die Kraft der Sozialen Marktwirtschaft und wirtschaftliche Prosperität als Gegenmodell zum dirigistischen Staat, der sich im Klein-Klein verzettelt und sich als Erziehungsberechtigter der Bürgerinnen und Bürger aufführt.“

Hier wird ein Zerrbild des Staates und der öffentlichen Verwaltung gezeichnet. In diesen Erzählungen legt „der Staat“ den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Unternehmen Fesseln an und bürdet ihnen einseitig Lasten auf. Er führt sich wie ein „Erziehungsberechtigter“ auf und zwingt andere zur „Erfüllung bürokratischer Pflichten“. Mit der Verwendung dieser Sprache und diesen Metaphern wird „der Staat“ und „die Bürokratie“ als etwas sehr Unangenehmes dargestellt. Wenn dann noch im Zusammenhang mit dem Abbau von Bürokratie von einem demokratischen Gebot gesprochen und der Staat, wie es Christian Lindner mal getan hat, in die Nähe einer Kleptokratie gerückt wird, schwebt sogar implizit der Vorwurf eines Unrechtsregimes im Raum; Menschen können das auch als Legitimation des Gesetzesbruchs verstehen. Vor dem Hintergrund dieses Deutungsrahmens sind diejenigen die Guten, die die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen vor unbotmäßigen Übergriffen des Staates schützen, selbst dann, wenn dieselben Personen oder Parteien im Bund oder in den Ländern in Regierungsverantwortung stehen.

Die Vorteile des Staates und der Bürokratie

Die Vorteile des Staates und der Bürokratie werden in diesen Erzählungen gänzlich ausgeblendet. Aus Sicht der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie und Praxis ist diese Verkürzung grob falsch und aus politischer Sicht sogar gefährlich. Hier wird eine künstliche Trennung beschrieben: auf der einen Seite „der Staat“ und auf der anderen Seite „die Wirtschaft“ oder „die Gesellschaft“. Diese Trennung existiert in Wirklichkeit aber gar nicht. Kein Unternehmen dieser Welt könnte ohne den staatlichen Ordnungsrahmen oder ohne die staatliche Gewährleistung von Eigentums- und Vertragsrechten bestehen. Und kein rational handelndes Unternehmen trifft Produktions- oder Standortentscheidungen, ohne auch die lokal vorhandene staatliche Infrastruktur zu berücksichtigen. Im Kosten-Nutzen-Kalkül dieser Entscheidungen müssen die vom Staat bereitgestellten Güter als Vorleistungen in die Rechnung eingehen. Beim Verhältnis zwischen Wirtschaft und Staat handelt es sich also immer um eine Öffentlich-Private Partnerschaft.

Diese Logik zeigt sich insbesondere beim internationalen Standortwettbewerb. Wenn sowohl die Kosten als auch der Nutzen dieser Partnerschaft berücksichtigt werden, also der Netto-Effekt aus staatlichen Belastungen und staatlichen Vorleistungen, dann kann eine Steuerbelastung allein auch nicht ausschlaggebend für die Standortwahl sein. Ein reiner Steuerwettbewerb kann im Grunde nur dann die Standortwahl bestimmen, wenn an dem Ort, an dem die staatlichen Vorleistungen in Anspruch genommen werden, nicht zwingend auch die entsprechende Besteuerung des wirtschaftlichen Erfolgs gewährleistet ist – Stichwort: Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung.

Eine Alternative zum Deutungsrahmen à la CDU/CSU und FDP ist ein positives Bild des Staates, inklusive seines Verwaltungsapparates. Bei Max Weber beispielsweise findet sich eine positive Einstellung zur Bürokratie. Denn sie gewährleistet bestmöglich, dass sich alle an Recht und Ordnung halten. Es ist deshalb schon ein wenig beängstigend zu lesen, dass die Regierungsparteien CDU und CSU die „Erfüllung bürokratischer Pflichten“ nicht als wesentliche Aufgabe ansehen. Wer mit diesen Pflichten nicht einverstanden ist, sollte sie ändern. Aber solange sie gelten, müssen sie auch erfüllt werden. Sachgerechter wäre es, wenn im Zusammenhang mit Bürokratieabbau die Bürokratie nicht per se in Frage gestellt wird, sondern es – immer unter der Wahrung eines gerechten Verwaltungshandelns – um die die Vermeidung unnötiger oder unverhältnismäßiger Bürokratie geht. Und ja, natürlich sollte etliches einfacher und schneller gehen, Planungsprozesse sollten gebündelt, Verfahren vereinfacht werden; auch in der Verwaltung braucht es mehr Kreativität und Freiräume, was übrigens auch eine Frage der politischen Rückendeckung und Verantwortungsbereitschaft ist, ob man nämlich für die Verwaltung einsteht oder nicht.

Eine Stütze des Gemeinwohls

Aber noch mal zurück zu den Steuern: Vor dem Hintergrund der vielzähligen staatlichen Vorleistungen für wirtschaftliche und andere Aktivitäten kann man auch ein grundsätzlich positives Bekenntnis zu Steuern abgeben. Ohne Steuern können diese staatlichen Vorleistungen nicht erbracht werden. Dieser positive Deutungsrahmen entspricht im Übrigen der Wortherkunft. Das Wort „Steuer“ stammt vom mittelhochdeutschen „Stiure“ bzw. vom althochdeutschen „Stiura“ ab und bedeutet Stütze bzw. Unterstützung – sie unterstützen also die Mitglieder einer Gesellschaft bei ihrer privaten Entwicklung und helfen ihnen bei der Schaffung ihrer Erwerbsgrundlagen, indem sie Gesellschaftsvermögen wie Kitas, Schulen und Universitäten, Verkehrsinfrastruktur und dergleichen finanzieren.

Etwas überspitzt könnte sogar formuliert werden, dass, wer in diesem Kontext eine Steuersenkung fordert, letztlich die Unterstützung der Einzelnen für die Gesellschaft zu verringern sucht. Im Umkehrschluss kann eine Verbreiterung der Steuerbemessungsgrundlage, sogar eine Steuererhöhung im Deutungsrahmen „Steuer = Unterstützung“ als Verfestigung des gesellschaftlichen Fundaments verstanden werden.

Ein positives Bild vom Staat und der Partnerschaft zwischen Staat und Wirtschaft

In unserem Bundestagswahlprogramm wird ein positives Bild vom Staat und der Partnerschaft zwischen Staat und Wirtschaft gezeichnet. Denn nur gemeinsam kann die Klimakrise bewältigt und die notwendige Digitalisierung vorangetrieben werden. Im Wortlaut: „Digitalisierung und Klimaneutralität müssen Staat und Unternehmen gemeinsam in Angriff nehmen. Während der Staat mehr öffentliche Investitionen realisiert, wollen wir zugleich Anreize für mehr Investitionen durch Unternehmen setzen. (…) Öffentliche Investitionszuschüsse sollen gerade bei neuen Technologien eine Starthilfe geben; Klimaverträge helfen, dauerhafte Planungssicherheit für langfristige Klimaschutzinvestitionen zu geben.“

Ja, all diese Unterstützungsmaßnahmen müssen finanziert werden. Dafür steht grundsätzlich ein Mix aus Steuererhöhungen und Kreditaufnahme zur Verfügung. Aus der Sicht nachhaltiger Haushaltspolitik lässt sich eine Kreditaufnahme aber nur für Investitionen in die Zukunft rechtfertigen. Deshalb steht auch im Wahlprogramm, dass dem Staat nur „bei Investitionen, die neues öffentliches Vermögen schaffen, (…) eine begrenzte Kreditaufnahme in Höhe der Netto-Investitionen“ erlaubt sein soll. Durch eine deutlich konsequentere Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung werden zusätzlich Ausgabenspielräume geschaffen. Bereits Ende 2016 hat die grüne Finanzministerin aus Schleswig-Holstein einen Vorschlag zur Anzeigepflicht nationaler Steuergestaltungen unterbreitet. Obwohl sich Ende 2017 die Finanzminister*innenkonferenz der Länder dieser Initiative anschloss, wurde diese Gesetzesinitiative bis heute nicht umgesetzt. Verhindert hat dies bisher die CDU/CSU auf Bundesebene.

Und ja, in Bezug auf gewünschte Umverteilungseffekte durch Steuern unterscheiden wir uns deutlich von CDU/CSU und FDP. Wir bekennen uns zu einer wieder stärkeren Umverteilung. Dieses Bekenntnis baut aber auf einem positiven Verständnis von Staat und Gesellschaft auf. Der Aspekt einer Verantwortungsgemeinschaft wird in den Vordergrund gestellt, in der die Zahlung von Steuern als etwas Positives charakterisiert wird. Es geht in diesem Kontext nicht darum, anderen Menschen etwas wegzunehmen, ihren Reichtum und ihr Glück aus Prinzip zu schmälern, sondern den Ursprung des Wortes „Steuer“ wieder in den Vordergrund zu heben. Wenn Steuern als Unterstützung für die Gesellschaft verstanden werden, dann bedeutet dies, dass Menschen, die besonders viel Steuern zahlen, auch besonders viel Unterstützung bieten. Weil sie auch von der gemeinsamen Gesellschaft, vom gemeinsamen Gesellschaftsvermögen und vom staatlichen Schutz besonders stark profitieren, haben diese Menschen die Fähigkeit und die Ressourcen, besonders viel Verantwortung für ihre Mitmenschen zu übernehmen.

Grüner Schwan

Nun aber zum zweiten wesentlichen Unterschied: Nicht nur beim Thema Steuern verkürzen CDU/CSU und FDP die Zusammenhänge. Dies gilt auch für andere wirtschaftliche Sachverhalte. Dies sieht man z.B. sehr gut anhand der Debatte um die richtigen Instrumente zur Verhinderung einer weiteren Erderhitzung. Sowohl CDU/CSU als auch FDP setzten dem Vernehmen nach vor allem auf vermeintliche marktwirtschaftliche Instrumente. Konkret sind damit der Emissionshandel und der CO2-Preis gemeint. Bei CDU/CSU heißt es dazu: „Auf dem Weg zur Klimaneutralität setzen wir auf effiziente marktwirtschaftliche Instrumente als Leitinstrumente innerhalb eines Instrumentenmix. (…) Davon ausgehend streben wir einen umfassenden europäischen Emissionshandel mit einheitlichem Preis und globaler Anschlussfähigkeit an.“ Und die FDP will „den EU-Emissionshandel (…) schnellstmöglich auf alle Sektoren und geographisch ausweiten. Die Politik gibt vor, wieviel CO2 im Jahr ausgestoßen werden darf. Für den Ausstoß müssen Zertifikate erworben werden, die von Jahr zu Jahr weniger und damit teurer werden. Wer hingegen besonders viel CO2 spart, muss weniger Zertifikate kaufen und spart Geld.“

Vor allem die FDP, aber auch Union setzten also auf die Marktkräfte zur Bewältigung aktueller und zukünftiger Herausforderungen. Grundsätzlich halte ich diesen Ansatz auch für richtig. Wer jedoch (fast) ausschließlich auf ein simples Preis-Mengen-Regime mit Blick auf die Klimakrise setzt, verkennt die Komplexität der wirtschaftlichen Zusammenhänge. Die oft beschworene „unsichtbare Hand“ der Märkte führt nicht in allen Fällen zum besten Ergebnis für Gesellschaft und Umwelt. Dasselbe gilt für Politikinstrumente, die alleine auf eine Korrektur des Preis-Mengen-Regimes ziele. Denn diese Politikinstrumente führen nur dann zum gewünschten Ziel, wenn sich die Folgen dieser Intervention zumindest weitgehend vorhersagen lassen. Und dafür müssen die wirtschaftlichen Zusammenhänge weitgehend linearer Natur sein.

Schwierig wird es hingegen, wenn keine oder zumindest keine stabilen linearen Zusammenhänge bestehen. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn sich durch die Politikintervention die Präferenzen der Menschen ändern, eine Preisänderung also nicht zu der ursprünglich erwarteten Mengenanpassung führt. Oder aber, wenn schlichtweg zu viele Bestimmungsfaktoren eine Rolle spielen, weil (fast) alles mit allem zusammenhängt. Oder wenn die Entscheidungen, die getroffen werden, hohe Anfangsinvestitionen benötigen, die Erträge aber erst weit in der Zukunft realisiert werden können. Je weiter in der Zukunft diese Erträge liegen, desto schwieriger sind diese zu prognostizieren. Fehlentscheidungen sind dann sehr kostspielig. In diesen Fällen handelt es sich um komplexe, nichtlineare Wirtschaftssysteme. Einfache Lösungen der liberalen und neoklassischen Theorien – wie sie etwa von FDP und CDU/CSU vorgeschlagen werden – reichen in diesem Umfeld nicht aus.

Die Klimakrise und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft sind ein Paradebeispiel für ein komplexes System. Die Risiken, die mit der Klimakrise einhergehen, können als „Grüner Schwan“ bezeichnet werden. Diese Metapher geht nicht auf die Grünen zurück, sondern so lautet der Titel einer Analyse der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) – eine Reminiszenz an die von vielen nicht vorhergesehene Finanzmarktkrise im Jahr 2008, die mit einem Schwarzen Schwan verglichen wurde. „Mit den komplexen Kettenreaktionen zwischen verschlechterten ökologischen Bedingungen und unvorhersehbaren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Reaktionen mit der Gefahr, Kipppunkte auszulösen, stellen Klimaveränderungen ein kolossales und potenziell irreversibles Risiko einer schwindelerregenden Komplexität dar“, so die BIZ.

Eine aktive Fiskalpolitik

In der Konsequenz halten die Autoren der Studie die CO2-Bepreisung als alleinige Lösung für die Bekämpfung der Klimakrise für unzureichend. Vielmehr bedarf es eines Mix aus verschiedenen Politikinstrumenten. Oder in den Worten der BIZ: „Höhere CO2-Preise allein reichen nicht aus, um individuelle Verhaltensweisen und den Ersatz von physischem Kapital durch kohlenstoffarme Alternativen voranzutreiben, so wie es Wirtschaftslehrbücher empfehlen. Eine aktive Fiskalpolitik kann beispielsweise ein wesentlicher erster Schritt zum Aufbau ausreichende Infrastruktur sein (z. B. Eisenbahnen), bevor die CO2-Bepreisung die Akteure wirklich dazu bringen kann, ihr Verhalten zu ändern (z.B. beim Umsteigen vom Auto auf die Bahn). Die Bekämpfung des Klimawandels erfordert daher einen komplexen Policy-Mix, der monetäre, aufsichtsrechtliche und fiskalische Instrumente kombiniert.“

Diese Erkenntnisse der BIZ-Autoren macht sich das grüne Wahlprogramm im Grunde zueigen. Dort heißt es: „Unser Ziel ist eine Wirtschaft, in der die nachhaltigsten Produkte auch die günstigsten sind. Das wollen wir durch einen klugen Mix aus CO2-Preisen, Anreizen und Förderung sowie Ordnungsrecht und dem Abbau von umweltschädlichen Subventionen ändern. Wollte man die Klimaziele allein über die Bepreisung von CO2 erreichen, würde das unweigerlich zu erheblichen sozialen Unwuchten führen. (…) Die Einnahmen aus dem nationalen CO2-Preis geben wir als Energiegeld pro Kopf an die Menschen zurück.“

Jenseits von Beißreflexen der Vergangenheit

Es geht bei dem Unterschied zwischen den Vorschlägen der Grünen zur Bekämpfung der Klimakrise im Vergleich zu den Vorschlägen von FDP und CDU/CSU meines Erachtens also nicht um die Debatte „Staat versus Markt“. Nein, es geht um die Debatte: Welche wirtschaftstheoretischen Zusammenhänge werden jeweils zugrunde gelegt? Eine simplifizierte Sichtweise aus den vergangenen Jahrhunderten oder die Erkenntnisse der neueren Komplexitätsforschung?

Ich meine, der Wahlkampf sollte dazu dienen, uns darüber zu streiten, wer die richtigen Lösungen für komplexe Fragestellungen hat. Das ist allemal besser, als sich auf die Beißreflexe der Vergangenheit zu reduzieren.

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