Den Tagen viel Leben

Meridiane

Mein Laptop ist wieder da. Und was soll ich machen am Abend der Wiedervereinigung zwischen Mensch und Maschine? Einen Blog schreiben über die Tage der Trennung. Er handelt von Kreisen, oder genauer von Meridianen, Verbindungslinien zwischen Orten, vielleicht Kontinenten, die man nicht sieht, aber auf denen wie auf geheimnisvollen Schleichwegen oder wie in einer Unterwasserströmung ein Austausch stattfindet. Auf dem ersten Meridian ist mein Laptop wieder zu mir gewandert. In Frankfurt aus dem Zug geklaut, gleich von der Bundespolizei wieder einkassiert, in Freiburg, als ich ausstieg, als vermisst mit hinterlegte Adresse gemeldet, reiste er zu mir nach Hause, während ich noch selbst durch die Republik jettete.

Genauso ging es meiner Jacke. Diesmal kein Diebstahl, sondern Schusseligkeit – ich vergaß sie auf dem Weg nach Trier in der Bahn, merkte es zwei Tage nicht, gab die Suchanzeige auf dem Handy in München auf und bekam in Ulm die Nachricht, dass die Jacke gefunden war und in zwei Tagen in Berlin abgeholt werden konnte. Wie es der Zufall wollte, war ich genau in zwei Tagen wieder in Berlin und konnte meine Jacke am Fundbüro der Bahn in Berlin Lichtenberg wieder in Empfang nehmen.

Chiasmus

Der dritte Meridian ist eine rhetorische Figur. Man nennt sie „Chiasmus“ (abgeleitet vom griechischen Buchstabe c). Zwei aufeinander bezogene Satzglieder stehen kreuzweise zueinander. So zum Beispiel: „Frage nicht was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst!“. Ein anderes Beispiel ist der Satz der amerikanische Schauspielerin Mae West über ihr reiches Liebesleben: „Was zählt: nicht die Männer, in meinem Leben, sondern das Leben in meinen Männern.“ Ich las diese Sätze in dem Buch „Das Café der Existentialisten“ von Sara Bakewell, das mir ein Freund zum Geburtstag geschenkt hatte und das ich erst verschlang und dann auf vielen Zugfahrten mit mir schleppte, ohne je zum Lesen zu kommen – weil ich immer im Laptop tippte. Jetzt war er weg, und ich musste und durfte es fertig lesen.

Dieser Chiasmus erinnert ganz bildlich an zwei Hände, die sich ergreifen. Und deshalb hat der großartige französische Phiolsoph Merleau-Ponty sie zum Sinnbild seiner späten Philosophie gemacht. „Wenn eine Hand eine andere berührt, wird sie in dieser Berührung auch von der anderen Hand berührt.“ So funktioniert Freiheit und Leben. Immer sind wir Teil von etwas. Man kann nicht Sehen, ohne dass es Sichtbares gibt.

Damit hatte er mich. „Wir könne nicht nicht-politisch sein“, sage ich andauernd. Das heißt: Wir müssen uns verhalten, weil es Verhältnisse gibt. Auch wenn wir nichts tun, haben wir Verantwortung.

Sepp Daxenberger

Ich las diese Seiten auf der Fahrt zum Urwahlforum in Bayern. Mir fiel ein anderer Chiasmus ein, den ich vor Jahren gelesen hatte und der mich nicht wieder losgelassen hatte. Sepp Daxenberger war grüner bayerischer Landes- und Fraktionsvorsitzender. Er war erster direkt gewählter Bürgermeister, der Schrecken der CSU, weil er Heimat nicht nur sagte, sondern ausstrahlte, aber eben eine andere Heimat, eine, die ein Ort ist, den man mit seinen Taten füllen muss. Nichts, was leitkulturmäßig von vornherein feststeht.

Sepp Daxenberger starb 2008 an Krebs. Drei Tage nachdem seine Frau ab Krebs gestorben war. Er war 48. Ich bin jetzt 47. Er hinterließ drei Söhne im Alter von meinen Söhnen. Und er sagte in einem Interview mit der Süddeutschen kurz vor seinem Tod: „Man muss den Tagen viel Leben geben und nicht dem Leben viele Tage.“ Mir fiel dieser Satz drei Stunden vor dem Urwahlforum wieder ein, als ich das Existentialisten-Buch las.

Und plötzlich war die Urwahl gar nicht mehr wichtig. Und dann wurde sie es wieder wichtig. Weil dies unser Leben ist. Und meines gerade das des Politikers. Also will ich es ganz den Tagen geben. Dieser Zeit. Volle Leidenschaft für unsere Zeit, das ist es wohl.

Acht Jahre trug ich diesen Satz mit mir rum. Und jetzt, über den Diebstahl, über das Lesen, über die Urwahl tauchte er wieder auf. Als hätte ihn eine unterirdische Strömung acht Jahre lang transportiert.

 

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