Auf unserem letzten Landesparteitag lernte ich Amir kennen. Amir ist jetzt 18, kommt aus Afghanistan und floh im Februar 2015 zusammen mit seinen Eltern nach Deutschland. Vor ein paar Wochen trat er in die Grüne Partei ein. Und jetzt ergriff er auf dem Landesparteitag das erste Mal das Wort. In fast fehlerfreiem Deutsch mit nur einem leichten Akzent. Ich weiß noch, wie nervös ich war, als ich zum allerersten Ma auf einem Parteitag vor den versammelten Delegierten redete. Und das war nur ein Kleiner Parteitag. Trotzdem habe ich mich vermutlich häufiger verhaspelt als Amir jetzt auf dem Großen.
Abends fuhren wir zusammen nach Hause. Er berichtete von der Flucht seiner Familie über die Türkei und Griechenland, dass es seinen Eltern schwer falle, Deutsch zu lernen, vor allem seiner Mutter, die nicht lesen könne. Auch ihm falle das Lesen noch schwer –jetzt, im 11. Jahrgang, bei wirtschaftspolitischen Texten, wo er mindestens 20 Worte pro Text nachschlagen müsse. Im Sommer hat Amir seine Mittlere Reife abgelegt. Jetzt arbeitet er aufs Abitur hin. Als ich ihn frage, was er später mache wolle, brach es aus ihm heraus: Jura studieren. Ich habe lange nicht einen so zielstrebigen, wissensbegierigen und mit solchem Lern- und Arbeitsethos ausgestatteten jungen Mann getroffen.
Aber während Amir seine Schulprüfungen ablegt und er Deutsch lernt, lässt sich der Staat Zeit. Obwohl er jetzt seit fast zwei Jahren hier ist, hat er noch nicht einmal seine Anhörung, ob er bleiben kann, gehabt. Und Amir kommt aus Herat. Das Bundesinnenministerium, hält das für ein sicheres Gebiet. Sicher in Afghanistan? Ich habe da ernsthafte Zweifel und finde Abschiebungen nach Afghanistan falsch. Wie der Parteitag, auf dem Amir geredet hat.
Aber selbst, wenn in Herat nicht ganz so viel gestorben wird wie im Rest des Landes, wäre es nicht nur menschlich schäbig, Amir nach Afghanistan zurückzuschicken, es wäre auch unlogisch. Amir würde Deutschland reicher machen. Und wenn er irgendwann selbst in seine Heimat zurückgehen würde, wäre er einer der Pfeiler des Friedens und Wiederaufbaus für sein Land.
Zur Zeit leben mehr als 200.000 abgelehnte Asylsuchende in Deutschland. Sie sind nur geduldet, sie leben im Grau der Unsicherheit. Wie viele von denen sind schon längst integriert und könnten, wenn sie dürften, ihren Beitrag für unsere Gesellschaft leisten? Viele.
Das Asylrecht ist ein Notrecht. Wir müssen die Asylgründe erweitern. Aber am Ende wird es noch immer kein Gesetz für alle sein. Und gerade damit sollten wir es nicht bewenden lassen. Wir brauchen legale Wege, hierherzukommen und hierzubleiben – auch außerhalb des Asylrechts. Dazu gehört auch, dass jene, die hier im Asylverfahren hängen, eine Chance bekommen, eine legalen Status zu erhalten. Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz. Und wir brauchen es schnell.
Ich fuhr Amir noch rum. Wir trennten uns vor seiner Haustür. Und ich erinnerte mich, wie mich eine Grüne Parteifreundin nach meinem ersten Parteitag rumgefahren hat. Und ich dachte, das ist ein Staffelstab. In 20 Jahren fährt Amir jemanden rum, wenn er ein alter Parteitagshase ist oder Vorsitzender oder Minister in Afghanistan, wer weiß das schon. Das einzige, was jetzt zählt, ist dass der Staffelstab nicht runterfällt, dass die Staffel nicht abreißt und die Geschichte nicht zuende ist, bevor sie beginnt.